Digitalisierung, Digitalisierung, DIGITALISIERUNG!


Beispielbild

Bisweilen sehe ich mich dem Vorwurf ausgesetzt, ich blickte Neuerungen skeptisch entgegen, was impliziert, daß ich konservativ sei. Das ist nicht der Fall. Ich stehe dem technischen Fortschritt keineswegs feindselig gegenüber, die Heugabel im Anschlag, sondern ich erkenne an, daß es zuweilen in der Geschichte Neuerungen gab, welche die Menschheit echt weitergebracht haben; der Scharpflug zum Beispiel. Richtig hingegen ist, daß ich Veränderungen nicht um der Veränderung willen gutheiße, sondern mit der Veränderung auch eine tatsächliche Verbesserung gegenüber dem Vorzustand ins Werk gesetzt sehen möchte.

Und das bringt uns zur Digitalisierung, Digitalisierung, DIGITALISIERUNG!, in welchselbiger die jeweilige Opposition zur jeweiligen Regierung das Allheilmittel für alles erkennt und der jeweiligen Regierung vorwirft, sie würde den Ausbau dieser Digitalisierung nicht energisch genug vorantreiben. Was heißt nun „Digitalisierung“? Massive Anpflanzungen von Fingerhut, oder was? Der ist aber giftig! Die Regierung will uns alle vergiften! Pegida hatte Recht!

Nach dem Willen der jeweils nicht Herrschenden sollen möglichst viele Abläufe im Alltag der Menschen digital vonstatten gehen. Statt zum Arzt zu rennen, soll man sich den digitalen Krankenschein holen können, die Steuererklärung soll nur noch per Elster abgegeben werden (nicht zu velwechsern mit der Brieftaube!), und ganz Verwegene möchten am liebsten auch das Bargeld abschaffen zugunsten einer rein digitalen Währung. Im Auto ist ja schon alles digital. Wenn man früher (als auch nicht alles besser war, aber manches halt doch) den Motor abgewürgt hat, trat man auf die Kupplung, drehte am Zündschlüssel, und die Karre fuhr weiter. Heute jedoch ist das Auto voller Elektronik. Wenn man abwürgt (was ich natürlich nie tue!), muß erstmal das System rebootet werden, eine unmittelbare Neuzündung des Motors ist im Rahmen der Digitalisierung nicht vorgesehen. Das nur als Beispiel für die unbestrittenen Segnungen der Digitalisierung. Also muß die Datenautobahn her, möglichst noch vor dem Erreichen des 2,5-Grad-Kipp-Punktes (Das 1,5-Grad-Ziel habe ich wegen erwiesener Lächerlichkeit des Zeitplans einfach mal übersprungen.), aber dummerweise verläuft der Ausbau von Autobahnen, ganz gleich, ob real oder digital, schleppend. Während über selbstfahrende Autos diskutiert wird, bröckeln die Talbrücken vor sich hin, und die Schlaglöcher vermehren sich wie die Karnickel, während die Autobahnbaustellen vor allem aus Absperrbaken und Spurverengungen bestehen, ohne daß man jemanden dort arbeiten sehen würde.

Und dann die Faxgeräte! Inbegriff der Rückständigkeit! Sowas von 20stes Jahrhundert! Ja, aber im 20sten Jahrhundert lag im Winter noch Schnee, es war also nicht alles schlecht. Also, das Faxgerät. In den 1980er Jahren schafften sich fortschrittsgläubige Menschen ein solches Gerät an und benutzten es nie, die meisten Leute bekamen so eine Apparatur gleich gar nie zu Gesicht. Denn das wurde vor allem in Behörden und anderen schriftkramproduzierenden Einrichtungen zum fixen bzw. faxen Datenaustausch per Telephonleitung verwendet. Was sag ich: „wurde“! Wird es bis heute. Und die heutigen Fortschrittsgläubigen sehen das als Indiz dafür, daß es dringend einer Digitalisierung, Digitalisierung, DIGITALISIERUNG! bedürfe. Faxe! Sowas rückständiges.

Wieso eigentlich? Man legt ein Schriftstück auf oder ins Gerät, zieht es durch und schickt es an den Empfänger, wo eine Kopie des Schriftstücks automatisch aus dem Drucker kommt. Die Umrechnung des Schriftbilds in leitungskonforme Signale, die empfängerseits wieder in das Schriftbild zurückverwandelt werden, geschieht übrigens auch nicht mit Zahnrädern und Tuschepinseln, sondern durchaus digital; das mal am Rande. Was also wäre die noch digitalere Alternative? ’ne E-Mail. Oder ’ne Wattsapp. Oder ein Tweet. Oder ein Snap. Oder ein Tiktok-Video. Oder was? Okay, jaja, eine E-Mail. Man geht also an den Computer, tippt die Nachricht ein, oder, wenn man ein Dokument schicken will, scannt dieses ein und hängt es an die E-Mail, oder man füllt ein Dokument direkt in der Dokumentenmaske aus, welche hoffentlich voreingestellt ist; man hängt eine digitale Signatur an und sendet es an den Empfänger. Sendet man es dem Empfänger aufs Handy, ist das Dokument eher kleinformatig, und hoffentlich ist der Handy-Empfang gut. Sendet man es als E-Mail auf des Empfängers Computer, ist man darauf angewiesen, daß diese E-Mail geöffnet und gelesen wird, während ein ankommendes Fax sich haptisch aufdrängt. In wieweit die ..äh.. digitalere Variante der Kommunikation einen signifikanten Vorteil bietet gegenüber der vorsintflutlichen Faxtechnik, erschließt sich mir nicht unmittelbar, aber ich bin für Plausibilisierungsversuche offen. Ein Vorteil wäre sicherlich der geringere Papierverbrauch.

Jedenfalls. Heute saß ich auf dem Einfüllstutzen zur Kanalisation, als es an der Tür schellte. Ich kam so schnell nicht hin, konnte also bloß noch die Abholkarte des DHL-Büttels aus dem Briefkasten bergen. Und zwar sollte ich das Paket nicht wie gewohnt bei der Hauptpost abholen, sondern bei der nächstgelegenen Packstation. Das freute mich ob des kürzeren Weges, und die Erfahrung sagte mir, daß das Prozedere unkompliziert sei: Barcode auf der Abholkarte an der Packstation untern Scanner halten, es öffnet sich das entsprechende Fach, fertig. So dachte ich. Denn inzwischen hat die Post, also DHL, also die Post, also egal, eine neue Generation von Packstationen in Betrieb genommen. Stichwort: Digitalisierung!

Manchmal sind es ja Kleinigkeiten, die mir das Leben beschwerlich machen. So standen beispielsweise bei meiner vorherigen Wohnung die Mülltonnen direkt neben der Haustür, und bei jedem Weg nahm ich rasch den Müll mit. Bei der jetzigen Wohnung hingegen sind die Mülltonnen hinterm Haus angeordnet, was jetzt nicht mehr automatisch auf dem Weg liegt. Na gut, den kleinen Umweg würde ich wohl in Kauf nehmen, aber um die Mülltonnen gibt es einen Zaun mit abgeschlossenem Tor, damit sie nicht ausbüxen, und der Schlüssel paßt nicht mehr an meinen alltäglichen Schlüsselbund, vor allem nicht auf dem Weg zur Arbeit. Denn neben meinem eigenen Haustürschlüssel, Wohnungsschlüssel und Briefkastenschlüssel hängen daran noch Haustürschlüssel und Stationsschlüssel der Arbeitsstelle, ein zusätzlicher Büroschlüssel, mein Spindschlüssel und ein weiterer Schrankschlüssel. Das alles zerfetzt bereits jetzt schon meine Hosentasche, und der Müllplatzschlüssel sprengt den Rahmen. Also bringe ich den Müll nur alle paar Wochen mal raus, und heute war’s soweit; die Mülltonnen liegen günstig auf dem Weg zur Packstation.

Komme ich also frohgemut mit meiner Abholkarte zur Packstation und will den Barcode einscannen: Gibt es da gar keinen Scanner! Stattdessen brüstet sich die Packstation damit, appgesteuert zu sein. Ja wie jetzt, App? Braucht man da ein Handy, etwa?
Nun bin ich ja, Corona und dem digitalen Impfausweis sei Dank, durchaus Besitzer, Eigentümer und Verweser eines ortsungebundenen Fernsprechapparats, aber dabeí habe ich das natürlich nicht immer! Also zurück nach Hause, Handy holen, in der sich erfüllenden Hoffnung, daß es geladen sei.
QR-Code auf der Station einscannen, Link zur DHL-Packstation-Seite öffnen, den Anweisungen folgen, die da lauten: DHL-App herunterladen, ein Kundenkonto einrichten, meine Adressdaten preisgeben, per E-Mail bestätigen, Zahlungsmöglichkeit eintragen, denn mit der DHL-App will DHL selbstverständlich zum leichthinnigen Erwerb irgendwelcher DHL-Leistungen verführen, ich wähle die einzige mir zur Verfügung stehende Möglichkeit: Paypal, also PayPal-Adresse eingeben, zu PayPal wechseln, dort einloggen, Zwei-Faktor-Autorisierung durchlaufen, fertig, die App ist betriebsbereit! Und nu? Per Bluetooth mit der Packstation verbinden, es leuchtet ein grünes Lämpchen auf, es blinkt, die Verbindung klappt nicht. Also nochmal. Klappt wieder nicht, die Packstation beendet den Vorgang. Ich trete einmal gegen die Packstation, es entsteht kein Schaden, ich versuche es noch einmal mit der Bluetoothverbindung, es klappt! Ich werde aufgefordert, mit dem Handy den Barcode auf der Abholkarte zu scannen, zu dunkel, kann nicht entziffert werden, ich gehe ins Licht, neuer Versuch, Erfolg! Es öffnet sich ein Fach. Ich entnehme mein Päckchen, analog. Es ist übrigens eine Schallplatte drin, auch analog. Aber diese Digitalisierung, Junge, Junge, die ist schon toll.

Apropos „Junge, Junge“. Die alten Alten, also zum Beispiel meine Mutter, hätten das Päckchen zurück zum Absender gehen lassen. Müssen. Abgesehen davon, daß meine Mama kein Smartphone hat, wäre sie auch nicht damit klargekommen, den QR-Code einzuscannen, ein Kundenkonto zu eröffnen, zwischen DHL-App, E-Mail-App und PayPal-App auf dem Handy hin- und herzuwechseln, oder überhaupt eine Zahlungsmöglichkeit zur Appnutzung einzutragen, denn meine Mutter gibt noch handgeschriebene Überweisungsscheine am Bankschalter ab. Digitalisierung? Richtet sich jetzt nicht primär an den Großteil der Bevölkerung, wiewohl es auch da Appnutzungserscheinungen gibt. Der Weisheit letzter Schluß ist das irgendwie auch nicht.

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