CD-Regal revisited: Pink Floyd.

30. September 2018

Ich habe ja nie einen Hehl daraus gemacht, daß ich nicht nur Pink-Floyd-Fan bin, sondern mich sogar so bezeichnen würde, was nicht für alles gilt, wofür ich sympathisches Interesse hege. Aber wie konnte es dazu kommen? In meinem Elternhause jedenfalls lernte ich nicht, ein Ohr zu entwickeln für moderne Spielarten der Tonkunst; da war bei Tschaikowski Schluß, was den Inhalt des Plattenschranks angeht, und es begann bei Schütz, Händel, Bach. Trotzdem schwang „Pink Floyd“ natürlich irgendwie im kulturellen Hintergrundrauschen mit, ohne daß ich dem Begriff konkret Musik hätte zuordnen können. Ein visueller Eindruck zumindest stellte sich spätestens 1994 ein, als in der „ADAC-Motorwelt“ das Golf-Sondermodell „Pink Floyd“ beworben wurde nebst Hinweisen darauf, daß Volkswagen in Deutschland die Konzerte jener Band präsentierte. Oder so.

An meinem letzten Schultag vor den Abiturprüfungen schließlich, mit Abistreich und Musikbeschallung in verdunkelter Pausenhalle, legte der DJ neben dem unvermeidlichen „School’s Out“ von Alice Cooper auch ein Lied auf, welches ich schon zuvor mal gehört hatte, und welches die Zeilen enthielt „We don’t need no education / We don’t need no thought control“, und ich frug einfach mal, wer das sänge? Aha, Pink Floyd. Weiter konnte ich mich nicht damit beschäftigen, denn ich mußte die letzte Gelegenheit nutzen, doch endlich mal zu schwänzen. Ich entfernte mich also von der Schule, um durch die Fahrprüfung zu fallen. Was ich dann auch tat.

Nach dem Abi spülte mir der Zivildienst nie zuvor gekannte Geldsummen aufs Konto, satte 13 D-Mark am Tag! Ausgerüstet mit derartigem Reichtum konnte ich ohne Reue bei Saturn nach CDs stöbern, wo mir eines Tages tatsächlich ein Album als Nice-Price-Angebot in die Hände fiel:

The Wall

Ein Doppelalbum für 15 D-Mark, doch gab es keine Titelliste auf der Rückseite. Aber wenn das einzige mir bekannte Pink-Floyd-Lied „Another Brick in the Wall“ nicht auf dem Album „The Wall“ vertreten war, wo dann? Ich ging also das Risiko ein und nahm die CD mit. Kaufenderdings; nicht daß hier noch der Eindruck entsteht, ich würde der Liste meiner Schandtaten neben Schuleschwänzen nun etwa auch noch Ladendiebstahl hinzufügen, nee, nee.

Unbeleckt von jeglichem Vorwissen legte ich daheim Disc 1 in mein CD-Radio, um mir mit schlechtem Klang ein vermutlich bis ins Kleinste ausgetüfteltes High-Fi-Sound-Erlebnis zu geben, aber ich wußte es ja nicht besser und konnte auch nicht anders. Die Musik jedenfalls überzeugte mich fast unmittelbar. Die Mischung aus schönen Harmonien und Brachialität bot mir just die Interessanz, für die ich empfänglich war, und das bereits, ohne daß ich mich näher mit den Texten und dem alles umfassenden Konzept auseinandergesetzt hätte. Daß es sich um ein Konzeptalbum handelt, bekam ich indes schnell spitz. Auf das ouvertürenhafte „In The Flesh?“, welches das Publikum auf die zu erwartende Show vorbereitet, folgt auf der ersten Scheibe über alle Lieder verteilt der Abriß des Werdegangs eines jungen Mannes, unter besonderer Berücksichtigung aller Faktoren, die zu seinen späteren Psychosen führen: Die dominante Mutter, der Verlust des Vaters im Krieg, die eigenen Erlebnisse im Bombenhagel, die seelenlosen, grausamen Lehrer in der Erziehungsanstalt, die verkorkste Pubertät und die treulose Freundin, sowie allgemein die betonierte Gesellschaft. All dies sind Ziegel in der Mauer, mit der sich Pink – so wird der Protagonist im Lied „In the Flesh“ bezeichnet, was somit das Album als irgendwie autobiographisch ausweist – umgeben fühlt, und welche mit jeder Begebenheit weiter in die Höhe wächst, bis er emotional komplett abgeschottet ist. Als Höreindruck soll nun nicht „Another Brick In The Wall“ dienen, welches als wiederkehrendes Motiv auf der ersten Disc in drei Teile aufgesplittet ist, sondern „Young Lust“:

(„The Wall“ erschien 1979, drei Jahre zuvor hatten bereits Black Sabbath „Dirty Women“ besungen, aber das tut hier nichts zur Sache.)
Die zweite Scheibe stellt zunächst Pinks Seelenzustand in der Isolation dar. Er fühlt sich einsam und der Welt nicht weiter zugehörig, betäubt sich mit Fernsehen und Drogen, was er freilich abstreitet, und entwickelt als Folge der rigiden Erziehung, die, da er hinter seiner Mauer sitzt, nun nicht mehr durch äußere Eindrücke korrigiert werden kann, ein faschistisches Weltbild, fühlt sich gehetzt und wartet eigentlich bloß noch auf den Tod. Schließlich imaginiert er nach einem Zwischenfazit, welches die Publikumsansprache der Ouvertüre wieder aufgreift, eine Art jüngstes Gericht, freilich nicht unter dem Vorsitz Gottes, sondern von Richter Wurm, da Leichen nun mal von Würmern zerfressen werden, mit der Anklage, Gefühle von beinahe menschlicher Natur zu haben. Das Urteil lautet: Öffentliche Zurschaustellung, also weg mit der Mauer!
Als Anspieltipps böte sich hier so manches an, das längste Stück der Platte, „Comfortably Numb“, das getriebene „Run Like Hell“ oder auch das operettenartige „The Trial“, aber mir hat es „Hey You“ angetan:

Was ich damals, 1996 oder 1997, alles noch gar nicht wußte:
„The Wall“ ist in der Tat irgendwie autobiographisch, insofern Roger Waters, der Bassist und Hauptsongschreiber jener Tage, hier die Traumata seiner eigene Kindheit aufarbeitet. Auf der vorausgegangenen Tour hatte er an sich selbst Verhaltensweisen bemerkt, die ihm ganz und gar nicht behagten, was ihm die Idee zu diesem Konzeptalbum gab. Die anderen Bandmitglieder waren am kreativen Prozeß nur marginal beteiligt, einzig David Gilmour konnte mit „Comfortably Numb“ ein wahres Highlight aufs Album schmuggeln. Pianist Richard Wright wurde sogar nach Abschluß der Studioaufnahmen aus der Band gefeuert, da er sich mit Roger Waters so gar nicht mehr verstand, ironischerweise jedoch für die folgenden Live-Darbietungen als bezahlter Bühnenmusiker wieder engagiert.

Diese Bühnen-Show war das Aufwendigste (mit e!), was seit barocken Opernaufführungen vor Publikum zelebriert wurde. Quer über die Bühne wurde während der Show eine Mauer aus Pappquadern gebaut, auf diese Mauer wurden von Gerald Scarfe animierte Szenen projiziert, davor wackelten überlebensgroße Marionetten über die Bühne, eine Pseudo-Band in Masken der originalen Pink-Floyd-Mitglieder spielte vor der Mauer, während die Band selbst dahinter weitgehend im Verborgenen blieb. Am Ende fiel die Mauer mit lautem Getöse in sich zusammen. Das alles war so teuer, platzfordernd und eben aufwendig, daß „The Wall“ 1980 und 1981 nur an vier Orten weltweit überhaupt aufgeführt wurde, namentlich Los Angeles, wo die Premiere stattfand, New York, selbstverständlich London und – – – Dortmund. Damals galt die Westfalenhalle noch als erste Adresse für derlei Veranstaltungen.

Irgendwann später (im Jahr 2000) erwarb ich dieses opulente Live-Doppelalbum, wiewohl ich früher überhaupt kein Freund von Live-Versionen irgendwelcher Lieder war. Aber seit ich erfahren hatte, daß ausgerechnet Dortmund Schauplatz der exklusiven The-Wall-Show war, drängte es mich, ein Dokument dessen zu besitzen. Das Live-Album wurde freilich in London aufgenommen. Vergebens war die Anschaffung dennoch nicht, denn die Longbox enthält ein Buch, das den Produktionsprozeß der Show dokumentiert. Passend zur den Rahmen sprengenden Bühnen-Show ist auch diese Verpackung so voluminös, daß sie nicht vernünftig in mein CD-Regal paßt. Nun ja.

Roger Waters hatte „The Wall“ nicht bloß als Konzeptalbum entworfen, sondern die visuelle Präsentation von vornherein mitgeplant. Innerhalb des Albums selbst wird die „Show“ mehrfach erwähnt (Der Song „The Show Must Go On“ ist freilich weniger im Bewußtsein der Öffentlichkeit, als es Queens Lied unter demselben Titel sein mag.), und auch die Pseudo-Band vor der Bühnen-Mauer findet Erwähnung. Die Aufmachung der Album-Hülle (außen schlicht und innen farbenprächtig) wurde ebenso von Gerald Scarfe entworfen wie die Animationen, die während der Show über die Mauer flackerten, und die animierten Passagen im surrealistischen Film von 1982. Die Hauptrolle des Pink spielt dort Bob Geldof, und die Handlung wird nahezu ausschließlich anhand der Musik des Albums erzählt. Der Song „When The Tigers Broke Free“, der nicht mehr auf die Schallplatte gepaßt hatte, konnte im Film verwendet werden.
Na gut, also doch „Another Brick In The Wall part 2“:

Auch diesen Film kaufte ich erst sehr viel später, und die DVD-Hülle ist so schmal, daß sie in der Tat quer über die CDs ins Regal paßt.

Den Titel Mutter aller Konzeptalben dürfte „The Wall“ trotz der epochalen Begleitumstände nicht für sich beanspruchen, denn da ist „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“ vor. Das war mir natürlich schnurz, mir gefiel’s, sehr sogar. Als erste Begegnung mit der Musik von Pink Floyd hätte es freilich fatal sein können, denn der zum Teil bombastische Sound von „The Wall“ ist keineswegs charakteristisch für das frühere Œuvre der Band. Des wurde ich sehr bald gewahr, denn dieses Album machte mir umgehend Appetit auf mehr, so daß mein Kauf eines zweiten Pink-Floyd-Albums nicht lange auf sich warten ließ.