2022 – Die’s nicht überlebt haben.

1. Januar 2022

„Soylent Boom“

Spiegel Online versorgt mich mit einer ausgewogenen Mischung aus wissenswerten politischen Neuigkeiten und Boulevard-Quatsch. Aktuell läßt sich hier die Silvesterbilanz nachlesen. An Tagen wie diesen erwacht in mir der menschenfeindliche Zyniker (und gewinnt die Oberhand über den menschenfreundlichen Zyniker, der ich überlicherweise bin). Also:

Um Unfälle durch den unsachgemäßen Gebrauch von Knallkörpern und Raketen zu vermeiden und damit die durch Corona bereits extrem belasteten Krankenhäuser zu entlasten, galt auch zu diesem Jahreswechsel ein Verkaufsverbot für Silvesterfeuerwerk.

Das klingt für mich nach einer vernünftigen Maßnahme. Was fordern vernünftige Maßnahmen üblicherweise heraus? Des Menschen Unvernunft nämlich, sich Bahn brechend in trotzigen Handlungen ohne Sinn und Verstand.

Trotzdem waren im ganzen Land Böller zu hören und Raketen zu sehen, nicht wenige davon stammten vermutlich aus illegalen Quellen. Wie jedes Jahr gab es bei der Knallerei schwere Unfälle.

Wie jedes Jahr. Man hätte also gewarnt sein können. Aber die Erfahrungen anderer sind wertlos, Warnungen werden in den Wind geschlagen. Der eine weiß es besser, der andere möchte seine Erfahrungen selbst machen.

(Bloß einer Bundesregierung, die aufgrund einer neuartigen Situation keinerlei Erfahrung im Umgang mit – willkürliches Beispiel – einer Corona-Pandemie hat und haben kann, wirft man natürlich vor, wenn sie „falsche“ Entscheidungen trifft.)

Jedenfalls. Bitte sehr, macht eure Erfahrungen:

Bei der Explosion eines Feuerwerkskörpers in Hennef bei Bonn ist ein Mann ums Leben gekommen, ein weiterer wurde schwer verletzt. Die beiden 37 und 39 Jahre alten Männer hatten mit einer zehnköpfigen Gruppe Silvester gefeiert.

Die übrigen acht Feiernden konnten dann die erlaubte Anzahl der Gruppe mit Freunden auffüllen, die zuvor aufgrund der Corona-Maßnahmen nicht eingeladen werden konnten. Hat also alles sein Gutes!

Ein Polizeisprecher vermutete am frühen Samstagmorgen, dass es sich bei dem Feuerwerkskörper um einen selbst gebauten Böller gehandelt haben könnte.

Da man ja aus Fehlern lernt, wird der 39-Jährige (der 37-Jährige ist ja tot) zum nächsten Jahreswechsel die Rezeptur entsprechend verändern und einen neuen Versuch starten.

Weiter:

Auf einer privaten Silvesterparty im Osten von Berlin sind zwölf Menschen bei der Explosion von illegalem Feuerwerk verletzt worden. Alle Verletzten mussten zur Behandlung in Kliniken gebracht werden, teilte die Feuerwehr am Neujahrsmorgen mit. Es habe aber glücklicherweise keine sehr schweren Verletzungen gegeben.

Wenn du einen Idioten mit „Idiot!“ titulierst, wird er dich anzeigen, weil er es als Beleidigung mißversteht, und das ist ja illegal. Wenn der Idiot hingegen illegales Feuerwerk zündet… Ach, egal.

Der jüngste Verletzte ist laut Feuerwehr ein elfjähriger Junge, die anderen Verletzten seien Jugendliche und Erwachsene.

Normalerweise kommen den Menschen ja Tränen der Rührung, wenn Kinder involviert sind. Alles würden sie zum Schutze ihrer Kinder tun. Alles! Außer natürlich, den Kindern einen lebenswerten Planeten hinterlassen, da sollen sich die Blagen mal nicht so anstellen und Freitags lieber in die Schule gehen. Und Feuerwerk geht sowieso vor!

Weiter:

Mindestens zwei Menschen wurden in Hamburg beim Abbrennen von Feuerwerk schwer verletzt. In Bramfeld explodierte nach Angaben der Polizei ein Böller in einer selbst gebastelten Abschussvorrichtung und verletzte einen 50-jährigen Mann schwer im Gesicht. Er schwebe in Lebensgefahr.

Das darf man alles nicht so negativ sehen. Denn wer träumte nicht davon, einmal zu schweben? Zugegeben, die Sache mit der Lebensgefahr ist etwas heikel. Aber schweben! Hach!

Weiter:

In einem anderen Fall müsse einem Mann nach missglückter Böllerei möglicherweise eine Hand amputiert werden.

Der dachte auch, er habe alles im Griff. (Pun intended.)

Weiter:

In Leipzig wurde ein Mann beim Zünden eines vermutlich ebenfalls selbst gebauten Böllers lebensbedrohlich verletzt, wie ein Polizeisprecher sagte.

Es wäre jetzt allzu billig, von „Leipzig“ über „Sachsen“ auf „Pegida“, „AfD“ und die in Sachsen virulente Impfnachlässigkeit zu schließen. Mein krankes Hirn knüpft da zwar Verbindungen, aber geböllert wird ja bundes- und weltweit, auch in Jahren, in denen mal kein Corona-bedingtes Verkaufsverbot für Feuerwerkskörper gilt. Also weise ich die Jury an, diese Aussage des Zeugen bei der Urteilsfindung nicht zu berücksichtigen.

Weiter:

In Wernigerode im Harz hat eine Rakete einen Wohnungsbrand mit viel Schaden verursacht. Nach Zeugenaussagen flog der Feuerwerkskörper am Freitag auf einen Balkon im fünften Stock des Hauses, teilte die Polizei am Samstag mit. Zunächst soll es zu einer Rauchentwicklung gekommen sein. Anschließend griff das Feuer auf die Wohnung eines 22-jährigen Mannes über und zerstörte diese teilweise.

Das muß also nicht mal eine illegale Rakete gewesen sein. Allgemein wird ja das farbenprächtige Höhenfeuerwerk wohlwollender bewertet als das stumpfe Geböllere. Ob der 22-Jährige, der die Nacht nach der Zerstörung seiner Wohnung durch die Rakete der Nachbarn im Freien verbringen mußte, das auch so sieht, ist nicht überliefert. Zum Glück war’s ja frühlingshaft warm, also nicht so schlimm. Kimawandel ist super!

Weiter:

In Stuttgart kam es gegen Mitternacht beim zentralen Schlossplatz zu Auseinandersetzungen zwischen Feierwütigen und der Polizei. Einige aggressive Partygänger hätten die Beamten bedrängt und mit Böllern beworfen. Die Polizei ging nach eigenen Angaben mit Schlagstöcken und Pfefferspray gegen die Menge vor. Ein Polizist habe ein Knalltrauma erlitten, zwei weitere seien leicht verletzt worden.

„Pyrotechnik ist kein Verbrechen!“
Und was hatte ich eigentlich gerade an Sachsen auszusetzen? Die Querdenkerszene hat ihren Ursprung ja in Stuttgart.

Weiter:

Ein 23 Jahre alter Mann ist in der Silvesternacht bei der Explosion eines Feuerwerkskörpers in Österreich tödlich verletzt worden. Ein 21-Jähriger wurde zudem schwer verletzt […] Dabei hätten sie sogenannte Kugelbomben gezündet. Als eine der Bomben nicht sofort zündete, näherten sich den Angaben nach vier aus der Gruppe dem Feuerwerkskörper, der dann explodierte.

Österreicher? *schulterzuck*

Und schließlich hier:

Trotz Böllerverbots hat ein Mann bei Enschede auf der Straße mit einem Metallgerät Feuerwerkspulver explodieren lassen. Dabei kam ein Kind ums Leben, ein weiteres wurde schwer verletzt.

Enschede? Da war doch mal was. Aber die Letzten, die dabeiwaren, sind eh lange tot, zwanzig Jahre nämlich schon. Es wurde also höchste Zeit für eine Erinnerungsauffrischung.

In den Niederlanden gilt eigentlich ein landesweites Böllerverbot an Silvester. Die Regierung hatte das Verbot das zweite Jahr in Folge verhängt, um die Krankenhäuser in der Coronapandemie nicht zusätzlich zu belasten.

Es ist also gut, daß wenigstens eins der Kinder starb, so fällt es dem Gesundheitssystem nicht mehr zur Last. Bei dem anderen Kind darf man noch die Daumen drücken.

So. „Zynismus: Ende!“?

Ich selbst habe mein Lebtag noch keinen Betrag irgendeiner Währung für Feuerwerkskörper ausgegeben. Mit geschenkten Böllern habe ich als Kind freilich auch schon meine Erfahrungen gemacht. Ein harmloses Zisselmännchen entwickelte im kleinen, hochgekachelten Klo auf der halben Treppe eine erstaunliche Knallwirkung, und mit einem Ladykracher lockerte ich die Teile eines Lego-Modells 6066 (eins meiner grauen Burgwandformteile weist nach wie vor Schmauchspuren auf) und brannte ein schwarzes Loch in die Teppichfliese in meinem Kinderzimmer.

Ins Fußballstadion gehe ich nicht des Feuerwerks wegen; Pyrotechnik ist vielleicht kein Verbrechen (außer vielleicht, wenn es verboten war und dann trotzdem Menschen dadurch zu Schaden kommen), aber ganz gewiß ist Pyrotechnik kein Menschenrecht.

Eine Jahreswendefeier ohne Feuerwerk ist natürlich ungewohnt und wenig spektakulär, aber ich bin zuversichtlich, daß auch ohne Böllerei keine bösen Geister die Herrschaft übernehmen. Zumal jene bösen Geister, die ohnehin an der Macht sind, sich noch nie durchs Feuerwerk haben verscheuchen lassen. Mithin ist so ein Silvesterfeuerwerk nicht essenziell, und ein Verkaufsverbot von Feuerwerkskörpern kein Anlaß, sich in seinen Grundrechten beschränkt zu sehen. Was den Menschen den Spaß am Feiern verdirbt, dürfte weniger das ausgefallene Feuerwerk sein, als vielmehr die durch Feuerwerk verursachten Unfälle mit zum Teil fatalen Folgen. In der Kosten-Nutzen-Risiko-Abwägung kommt Feuerwerk angunfürsisch nicht gut weg.

Letztes Jahr um diese Zeit hatte ich Spätdienst, wie auch schon einige Male zuvor. Spätdienst an Silvester und Neujahr ist klasse, weil man vor Mitternacht fertig ist, dann gegebenenfalls noch mit Freunden feiern kann, und am nächsten Tag muß man nicht früh aufstehen. Und letztes Jahr, da auch schon ein Verkaufsverbot für Pyrogedöns galt, wurde es mir nasenfällig: Es stank nicht nach Pulverdampf, als ich durch die Straßen ging, anders als in den Jahren davor. Stattdessen schnupperte es allüberall aus den Häusern nach Raclette und Fondue. Und dieses Jahr, da ich Frühdienst hatte, konnte ich nachts einigermaßen ungestört durchschlafen, fand morgens keine schweflig-neblige Atemluft vor, und auch die Straßen sind nahezu frei von den Böllerresten, welche wegzuräumen den Böllernden ja noch nie eingefallen ist. Also ich finde das „Böllerverbot“ prima!

Wenn schon Partikularinteressen, dann nicht die der enttäuschten Feierwilligen, sondern bitteschön meine!