Glasbruch.

22. November 2021

Das Konzept „zerbrochene Bierflasche“ verstehe ich nicht. Es leuchtet mir nicht ein. Wo ist der Sinn, wo der Zweck, welches sind die Beweggründe, was versprechen sich die Menschen davon? Und, die Frage, die man grundsätzlich bei jedem Vorgang in der Gesellschaft stellen sollte: Wem nützt es und wem schadet es?

Ich mein‘, das geschieht ja nicht einfach so, daß so eine Bierflasche zerbricht. Da muß doch eine treibende Kraft dahinterstecken, vermuten wir mal: Ein Mensch. Menschen haben Bedürfnisse, Affekte, Hoffnungen, Wünsche, Erwartungen, Ziele und Motivationen. Welches Motiv regiert das Zerbrechen einer Bierflasche? Gewinnstreben! Hm, nein, durch das Zerbrechen der Flasche gingen dem Besitzer der Flasche just 8 Cent an Pfand verloren, dem Eigentümer der Flasche gar die Flasche selbst. Das Zerbrechen der Flasche war dem Biertrinker also wichtiger als das Einfordern des hinterlegten Pfandes in Höhe von 8 Cent. Die Gefühlslage des Besitzers der Flasche, also wohl der Brauerei, war ihm gänzlich nebensächlich; wie die Brauerei den Verlust der Flasche verkraftet, interessierte ihn nicht, durch die gezahlte Pfandsumme (Euro 0,08) hielt er die Sache für abgegolten. Das ist übrigens nicht der Fall, denn durch die Pfandhinterlegung hat der Käufer des Bieres die Verpackung eben nicht erworben, sondern nur geliehen – darum ja das Pfand, um die Motivation zur Rückgabe zu unterstützen. Die Flasche bleibt Eigentum der Brauerei, welche beabsichtigt, diese Flasche erneut zu befüllen. Das Zerbrechen der Bierflasche stellt strenggenommen also eine Sachbeschädigung dar.

Doch 8 Cent waren offenbar nicht genug der Motivation, um die Flasche am Stück zu belassen, wiewohl in unseren Städten inzwischen hunderte von Flaschensammlern uterwegs sind, die genau auf diese 8 Cent scharf sind, herumliegende Bierflaschen einsammeln und sich hemmungslos am Flaschenpfand bereichern. Das hatte der flaschenzerstörende Biertrinker aber nicht nötig.

Jedenfalls. Allsams- und -sonntäglich liegen allenthalben zerdepperte Bierflaschen auf den Gehwegen. Durch die Beschädigung wurden sie unbrauchbar und hätten also dem Altglas zugeführt werden können, aber Scherben aufzulesen fällt ja niemandem ein, man könnte sich ja verletzen. Nun gut, jetzt liegen die Scherben auf dem Weg, und es könnten sich andere daran verletzen, aber auch das interessiert ja den Biertrinker nicht. Hätte es ihn interessiert, hätte er ja zumindest mit der Schuhsohle die Scherben etwas zur Seite schieben können, um den Gehweg sicherer zu machen. Aber nee.

Was also waren nun die Beweggründe, die den Biertrinker veranlaßten, die Flasche zerschellen zu lassen? Wut? Schlecht kanalisierte Aggression? Reiner Mutwille?

Ja, ich bin nicht blöd, sondern mir ist bewußt, daß in den meisten Fällen vermutlich gar keine bewußte Entscheidung unmittelbar der Zerstörung der Flasche vorausging, sondern es bloße Unachtsamkeit war. Mal abgesehen von der bewußten Entscheidung, Bier zu sich zu nehmen, mit allen Konsequenzen. Zum Beispiel mit der Konsequenz, daß durch Alkoholkonsum das Bewußtsein getrübt wird, die Reaktionsfähigkeit vermindert und die Koordination der eigenen Bewegungen beeinträchtigt wird. Weiß man ja vorher, nimmt man in Kauf. Ist ja auch nicht schlimm. Sonst wäre es ja nicht erlaubt und erwünscht, Alkohol zu konsumieren. Erwünscht? Aber ja, der Staat verdient ja immerhin mit.

Zufällig weiß ich, daß in unserer Gesellschaft ein Mensch, der nicht trinkt, keinen Alkohol nämlich, fast so schief angesehen wird wie derjenige, der zuviel davon trinkt. Alkoholismus ist natürlich bäh, klar, das sind ja diese Menschen, die ihren Konsum nicht im Griff haben, die sich gehen lassen, die schon so aussehen! Diese fettigen Haare, diese wässrigen Augen, diese rotgeäderte Nase, dieser Geruch, nicht nur nach Alkohol sondern nach so manchem, was dem Körper entströmt, nee, damit will der haushaltsübliche Bietrinker nichts gemein haben. Außer halt manchmal den Rausch, nö? Und wenn dann einer gar keinen Alkohol trinkt, nicht mal so einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt? Oder mal ein Glas Wein bei einem guten Essen? Oder Silvester! Da aber doch mindestens mal so ein Glas Sekt zum Anstoßen? Nein, auch nicht? „Also das könnte ich nicht!“ hört man dann. Also wenn du das nicht könntest, dann bist du doch eigentlich, also nur mal so, eigentlich, bist du dann nicht auch Alkoholiker? Nein, natürlich nicht.

Die Herstellung, die Präsentation, der Konsum von alkoholischen Getränken sind in unserer Gesellschaft Kulturerrungenschaften. Ganze Landstriche leben ausschließlich vom Weinanbau, von Hopfen, Gerste, Obstplantagen, die Herstellung von Wein, Sekt, Bier, Schnäpsen und Likören (und was es sonst noch so geben mag) ist eine Wissenschaft für sich, hochgeachtet, seit Jahrtausenden nach traditionellen Verfahren durchgeführt. Man ist stolz auf diese Kultur. In der Werbung läßt man die Bügelflaschen plöppen, man erkennt Weinbrannt am Geschmack, und „nette Menschen trinken gerne“ so einen komischen Kräuterlikör. Und die Konsumenten brüsten sich darin, Weinjahrgänge beurteilen zu können, Biere am Geschmack unterscheiden zu können, nicht zuletzt auch mit der Fähigkeit, eine Bierflasche auf die aberwitzigste Weise ohne Zuhilfenahme eines offiziellen Flaschenöffners ihres Kronkorkens entledigen zu können. Und selbstverständlich geht es in ungefähr jedem zweiten Schwank aus der eigenen Jugend um was Lustiges, was man im Vollrausch angestellt hat. „Weißte noch, wie ich damals so hackestramm war und dann, haha! mit dem Scirocco, den wir damals hatten, ey, das war so geil! voll gegen den Brückenpfeiler *gibbel*. Die Brigitte ist damals totgelieben, aber die mußte man sich ja eh schöntrinken. Prost!“

Was also ist der Beweggrund, auf dem Gehweg Scherben zu hinterlassen, einem Flaschensammler 8 Cent und der Brauerei eine Flasche vorzuenthalten und sich als asoziales Arschloch zu geheien? Ich weiß es nicht. Und selbstverständlich hätte es nicht „der Biertrinker“ und „der Konsument“ heißen müssen, denn Frauen und sonstwie Diverse wollen natürlich genauso als asoziale Arschlöcher wahrgenommen werden, wenn auch nur von so trübtassigen Nichtalkoholikern wie mir. Für Mitalkoholiker ist das alles ja ganz normales und akzeptables Verhalten.


Hitchantino.

5. November 2021

Es ist absolut nicht elitenwürdig und gleich gar keine Mindermeinung, wenn ich mich dazu bekenne, ein Fan des Regisseurs Quentin Tarantino zu sein. Denn wer wäre es nicht? Nun, all jene sind es nicht, denen langatmige Unterhaltungen über Alltagsscheiß in Filmen auf die Nüsse gehen, die Gewaltorgien verabscheuen, und die Tarantino vorwerfen, ein ausgesprochener Rassist zu sein, so oft, wie in seinen Filmen das N-Wort zu hören ist. Von seinem latent sexistischen Fußfetisch gar nicht zu reden.

Aber nehmen mir mal „Pulp Fiction“, einen Film, den ich ohne zu zögern in meine All-Time-Top-Drei berufen würde. Zwei Typen laufen durch Los Angeles, knallen Menschen ab, das Blut spritzt. Andere Typen laufen ebenfalls durch Los Angeles, prügeln sich blutig, werden von Ledersadisten vergewaltigt und nehmen blutige Rache. Und Drogenkonsum wird in äußerst ästhetischen Bildern auf die Leinwand gebracht. Gewaltverherrlichung! ist der Vorwurf. Verharmlosung von Drogen! Äh… ja nee. Anders als in jedem braven Western, wo rechts und links die Banditen und Indianer und sonst jeder durch saubere Revolverschüsse aus dem Sattel geholt werden, ohne einen einzigen Tropfen Blut und ohne, daß sich noch weiter um die Leichen geheit würde, was aber nichts daran ändert, daß da Menschen umgebracht wurden, ist bei Tarantino Blut zu sehen, auch viel davon, aber die Produktion von Leichen stellt ein Problem dar. Zum einen ein moralisches Problem für Samuel L. Jacksons Charakter Jules Winnfield. Zum anderen aber auch das rein pragmatische Problem: Wohin mit der fucking Leiche? Am hellichten Tage! Vielleicht sollte man die Darstellung von Gewalt nicht mit Gewaltverherrlichung gleichsetzen.

Ebenso kann auch keine Rede davon sein, daß Drogenkonsum verharmlost würde. Gezeigt wird ja ausgerechnet die Auswirkung einer Heroinüberdosierung. Klar, nicht als medizinisch valides Lehrvideo, sondern als unterhaltsame Filmkunst, aber eben auch nicht als unproblematische Hippie-Verharmlosung.

Und Rassismus? Das N-Wort wird untabuisiert zur Aussprache gebracht. „My nіgger!“ (Sorry, Zitat) sagt wer zu wem? Genau, Marsellus Wallace (Ving Rhames, schwarz und Boss) zu Vincent Vega (John Travolta, weiß und Handlanger). In anderen Filmen Tarantinos, namentlich „Django Unchained“ und „The Hatefull Eight“ wird das N-Wort noch sehr viel häufiger verwendet. Weil aber halt auch der historische Kontext, in dem die genannten Filme angesiedelt sind, eine politisch korrekte Sprachbehandlung unglaubwürdig machte. „Show it, don’t tell it“ gilt auch hier. Ausgesprochen (tell) wird das N-Wort, welches selbstverständlich für sich genommen rassistischen Ursprungs ist und in vielen Fällen in der wirklich wahren Welt auch ebenso rassitisch verwendet wird. Aber was wird gezeigt (show)? Am Ende obsiegt der schwarze Mann, sei es Django, sei es Jules Winnfield in „Pulp Fiction“. Ist denn das in einen Kontext eingebundene rassistische Wort wirklich entscheidender für die Beurteilung von Werk und Author als die dingliche Handlung und ihr Ergebnis, welche eindeutige Sympathie für den Angehörigen der marginalisierten Gruppe erkennen läßt? Meiner Ansicht nach nicht.

Es folgt ein Chiasmus.

Wieso ein Chiasmus? Weil der obere Textabschnitt von Tarantino handelte, der nun folgende aber von Hitchcock handeln wird, das dazwischengeschaltete Bild jedoch eine andere Reihenfolge zeigt, mithin eine Überkreuzstellung vorliegt, nach dem griechischen Buchstaben Chi ( Χ ) eben „Chiasmus“ geheißen.

Alfred Hitchcock hat in seinem Leben (mindestens) 50 Filme gedreht. Geboren 1899 begann er ab 1920, an Filmproduktionen mitzuwirken, zunächst als Zuarbeiter, dann als Regieassistent, um schließlich ab 1925 selbst Regie zu führen, seit 1929 mit Ton. Jeder, so behaupte ich, kennt mindestens einen Hitchcock-Film, mit etwas Nachgrübeln fallen einem zehn, vielleicht 20 Filme ein, und werden einem Filme genannt, von denen man nicht wußte, daß sie von Hitchcock inszeniert wurden, hat man die Titel zumindest schon mal gehört, vielleicht die Filme sogar gesehen:
„Die Vögel“, „Das Fenster zum Hof“, „Der Dritte Mann“… Falsch! „Der Unsichtbare Dritte“, „Psycho“, „Vertigo“, „Der Mann, der zuviel wußte“, „Marnie“, „Über den Dächern von Nizza“, „Die Rote Lola“, „Der Fremde im Zug“, „Bei Anruf Mord“.

Im Laufe der letzten Jahre habe ich mir zur Aufgabe gemacht, im Gebraucht-CD-Laden mit Plattenkeller und DVD-Abteilung so viele Hitchcock-Filme wie möglich zu sammeln. 50 sind es noch nicht, aber immerhin schon mehr als 30, davon einige auf einer Kompilation mit Filmen der 40er Jahre. Gerade die frühen Werke werden kaum in anderer Form zu bekommen sein, was mir recht ist, denn auch DVDs beanspruchen Platz, und der ist knapp, wenn man noch anderen raumfordernden Hobbys frönt.
Von den bekannteren Filmen fehlen mir noch „Der Fremde im Zug“, „Mr. und Mrs. Smith“ (Nicht zu velwechsern mit einem gleichnamigen Film mit Brad Pitt und Angelina Jolie) und „Immer Ärger mit Harry“, aber das kann ja noch kommen.

Interessant an Hitchcocks Filmen sind nicht nur die in der Regel anregende Handlung, die schauspielerische Leistung von Cary Grant und Grace Kelly oder Tippi Hedren und die spannungsfördernde Regiearbeit. Auch die implizite Darstellung der jeweils zeittypischen Lebenswelten erweckt mein Plaisier, Amerika 1958, London 1975.
Ein Hauptmotiv, das in verschiedenen seiner Filme ausgearbeitet wird, ist die falsche Beschuldigung, der unbegründete Verdacht, ein Sujet, das auch in mir Paranoia auszulösen vermag.

Und manchmal trifft man auch unvermittelt auf einen Eye-opener. Den Film „Riff-Piraten“ (zu English: „Jamaica Inn“) von 1939 hatte ich nicht auf dem Schirm. Doch als ich ihn sah, beschlich mich in langsamen, kreisenden Bewegungen das Gefühl, daß ich das alles schon mal irgendwo gesehen hätte. Den Film kannte ich aber definitiv vorher nicht. Dann kam es mir: Das Asterix-Abenteuer „Die Goldene Sichel“ basiert auf diesem Film beziehungsweise auf der Romanvorlage von Daphne du Maurier, welche übrigens trotz ihres frankophonen Namens als Britin geboren wurde und für mindestens drei Hitchcock-Filme die literarische Vorlage geschrieben hat.

So, wie komme ich jetzt zu dieser Gegenüberstellung? Nun, weil Alfred Hitchcock 50 Filme gedreht hat. Und weil Quentin Tarantino ein Gewese darum macht, daß für ihn nach dem zehnten Film Schluß sein soll. Ja wie bitte? Quentin, hör auf, rumzubitchen!