Journalismus ist überbewertet.

23. August 2017

(Da ich gerade an einem längeren Beitrag schreibe, dessen Fertigstellung ausreichend lange Zeit in Anspruch nimmt, um ihn zwischendurch als Entwurf abzuspeichern, bin ich über einen anderen Entwurf gestolpert, den ich offenbar am 28. März 2015 unveröffentlicht im Zettelkasten hinterlassen habe. Was damals die Richtung dieses Artikels werden sollte, und welches mein Fazit geworden wäre, kann ich nicht mehr sagen; vermutlich wollte ich auf die Diskrepanz zwischen hehrem moralischem Anspruch und der schnöden Alltagswirklichkeit hinaus, also Pillepalle. Angesichts der Entwicklung in der Türkei und in Rußland wäre ich auch fast geneigt, den provokanten Titel zurückzunehmen, denn naTÜRlich ist ein unabhängiger Journalismus wichtig und notwendig für das Funktionieren einer Demokratie. Ich lasse das dennoch so stehen, weil das halt der Text ist, wie ich ihn ursprünglich verfaßt habe, bis mir die Luft ausging.)

Bei BILDblog steht’s, und ich mußte jedem einzelnen Aspekt des Artikels zustimmen:
http://www.bildblog.de/63749/andreas-l/

Die Medien, die Presse, die Journalisten – sie verstehen sich als „die vierte Gewalt“. In einem modernen demokratischen Rechtsstaat, in einer Republik, ist die Staatsgewalt geteilt. War sie in einer absolutistischen Monarchie noch in der Person des Monarchen vereint, so gliedert sie sich nun in Legislative (Gesetzgebung = Parlament), Exekutive (ausführende Gewalt = Regierung) und Judikative (Rechtsprechung = Gerichte). Prinzipiell sind die Gewalten voneinander unabhängig, wiewohl dies in Deutschland auch nicht so ganz stimmt, aber das ist eine andere Geschichte (Stichwort: Gewalten-Verschränkung). Die vierte Gewalt im Staate ist in diesem Sinne nicht Teil des Staatsapparats, sondern sie ist das Kontrollorgan, die kritische Öffentlichkeit, Sprachrohr des Volkes, das den handelnden Politikern, Juristen und Mitgliedern der Exekutive auf die Finger schaut. Und so soll es auch sein, denn dafür steht die Pressefreiheit, die im deutschen Grundgesetz im fünften Artikel manifestiert ist. So weit, so gut.

Freilich ist „die vierte Gewalt“ nicht offiziell, sondern entspringt dem Selbstbewußtsein des Journalistenstandes, befeuert durch die Erfahrung faktischer Macht. Was in der Zeitung steht, hat Auswirkungen. Was einmal gesendet wurde, ist nicht mehr zurückzunehmen. Journalisten recherchieren Mißstände, decken Skandale auf, greifen durch ihre Texte und Bilder unmittelbar ein in die Willensbildung des Volkes. Sie generieren den Druck der Öffentlichkeit, der die handelnden Politiker in ihren Entscheidungen bestärkt oder zögern macht, der einzelne Karrieren fördern oder beenden kann. Eine große Verantwortung, fürwahr. Ethisches Handeln und sicheres Urteilsvermögen müßten für einen Journalisten Grundvoraussetzung sein. Dessen war sich der Deutsche Presserat bewußt und hat darum 1973 den Pressekodex beschlossen. Sehr verkürzt zusammengefaßt steht darin, daß die medial verbreiteten Informationen gut recherchiert sein und stimmen müssen, und daß in Anlehnung an das Grundgesetz die Würde des Menschen, also das Persönlichkeitsrecht gewahrt sein muß. Und noch so einiges andere, was auch wichtig ist. So weit, so gut.

Freilich ist der Pressekodex nur so semiverbindlich, insofern er lediglich eine freiwillige Selbstkontrolle darstellt. Verfehlungen werden bei Kenntnisnahme gerügt, sicher, aber was hilft es? Eine einmal verbreitete Fehlinformation ist in der Welt, und von einem einmal zu Unrecht falsch gezeichneten Bild eines Menschen bleibt immer etwas hängen. Und überdies ist „Journalist“ auch weder eine geschützte Berufsbezeichnung, noch ist es ein Ausbildungsberuf; das Vorhandensein von Journalistenschulen (prominent die Henri-Nannen-Schule) und Journalismus-Studiengängen, zu denen berüchtigterweise nur die profiliertesten Einserabiturienten überhaupt zugelassen werden, könnte da einer falschen Vorstellung Vorschub leisten. Journalist nennen kann sich prinzipiell jeder, der in irgendeiner Form irgendwas publiziert, also auch der Schreiberling eines unbedeutenden Einpersonenblogs. Dem Wortsinne nach ist ein Journalist jemand, der Journale füllt, ganz gleich, mit welchem Inhalt und ungeachtet seiner Geisteshaltung. Zu Bismarcks Zeiten waren Journale noch ausschließlich gedruckte Zeitungen, doch sinnvollerweise umfaßt das Betätigungsfeld des Journalisten heutzutage natürlich jegliches Verbreitungsmedium, von den klassischen Druck-Erzeugnissen Zeitung, Zeitschrift, Magazin über die inzwischen fast schon klassischen Sendungen in Hörfunk und Fernsehen, hin zu den mittlerweile auch schon nicht mehr sooo neuen Medien im Internet, momentan gipfelnd in Facebook und Twitter. Und daß Journale „täglich“ erscheinen, ist auch nur Ausdruck einer Periodizität, die als Pars-pro-toto zu verstehen ist.

Jedenfalls. In den Kommentarspalten des medienkritischen Blogs Stefan Niggemeiers, einem der Gründer des BILDblogs, sammeln sich Menschen, die einem Journalismus hinterhertrauern, der nach ethischen Maßstäben im Sinne des Pressekodex‘ handelt. (Und sicher sammeln sich solche Idealisten noch an ganz vielen anderen Stellen, aber als Fachfremder habe ich halt nicht die ganze Landschaft im Blick.) Da wird dann angesichts der geistig-moralischen Verfehlungen des Standes bloß noch von „Journalismus in Anführungszeichen“ gesprochen. Klar, auch ich würde mir wünschen, daß Journalisten sich nicht nur für die staatstragende vierte Gewalt halten, sondern daß sie auch die fachliche Qualifikation und moralische Integrität mitbrächten, die einen solchen Anspruch rechtfertigten. Allein, bei mir verfestigt sich die Meinung, daß Journalisten halt doch in erster Linie Journale füllen, mit egal was. Und ich frage mich: War es je anders?

Schon die holzschnittlastigen Flugblätter der frühen Neuzeit bedienten nicht ausschließlich das Informationsbedürfnis des damaligen Publikums, sondern auch die Sensationsgier desselben, gemäß dem Horaz-Wort „Aut prodesse volunt aut delectare poetae, aut simul et iucunda et idonea dicere vitae“: „Die Dichter wollen entweder nützen oder erfreuen oder zugleich Erfreuliches und für das Leben Nützliches sagen.“ Warum denn auch nicht; wer eine Information an den Mann (die Frau) bringen will, muß sie in ein attraktives Gewand kleiden (die Information, nicht die Frau). Spätestens in der Reformationszeit verfolgten Flugblätter nicht mehr primär den Zweck einer Informationsvermittlung, sondern vor allem die Verbreitung einer politischen Agenda.
Ob man Bänkelsänger in welchem Sinne auch immer als Journalisten bezeichnen sollte, wäre zu diskutieren, doch unstrittig verbreiteten sie Informationen übers Land. Auch sie kaprizierten sich auf die schauerlichen, sensationsheischenden Geschehnisse ihrer Tage.
Und es steht das Wort „Journaille“, bezeichnend Journalisten, die als Gesamtheit moralisch fragwürdige Methoden anwenden in der Auswahl, der Beschaffung und der Verbreitung von Informationen. Ja, auch die Nazis verwendeten das Wort, um die freie Presse zu diffamieren, doch erfunden haben sie es nicht. Da war Karl Kraus, des Nazitums nahezu unverdächtig, 1902 schon näher dran, als er in seiner Zeitschrift „Die Fackel“ über „die Verwüstung des Staates durch die Pressmaffia“ ätzte.

Also offenbar wußten Journalisten zu allen Zeiten schon den Zorn der Gerechten auf sich zu ziehen. Bedauerlich, fürwahr.


1000meisterwerke: Captain Roger in lauschiger Nacht.

13. August 2017

Oder halt erstmal ein Meisterwerk, nämlich obgenanntes. Und zwar: Manchmal – und in letzter Zeit vermehrt – überkommt Lego, die Firma, offenbar ein Anflug akuter Nostalgitis. Da werden etwa innerhalb der Nexo-Knights-Serie Embleme und Setnummern längst vergangener Lego-Epochen zitiert, als ob die gegenwärtige Zielgruppe damit etwas anfangen könnte. Oder es tauchen in aktuellen Sets Minifigs auf, die T-Shirts mit Logos ehemaliger Lego-Produktlinien tragen; in Sets zum Lego-Movie zum Beispiel von Fabuland und Blacktron, gar nicht zu reden vom in Stein ausgeführten Rückgriff auf klassische Legoland-Raumfahrt-Designattribute rund um den „80ies something space guy“ Benny und sein Spaceship, Spaceship, SPACESHIP! Dieses LEGO-Movie wiederum wird nun selbst wieder zitiert, wenn in der Sammel-Minifig-Serie zum demnächst anlaufenden Ninjago-Movie ein Pastelgoth- oder Manga-Mädchen ein Hemd mit dem Antlitz von Unikitty trägt. Und eine Laborantin derselben Minifig-Serie offenbart unter dem Kittel ihre Verbundenheit zu Batman, dem Protagonisten des letzten Lego-Kinofilms. Naturgemäß begrüße ich derartige Rückbezüge, sorgen sie doch humorvoll für einen Hauch von Kontinuität innerhalb einer leider sehr unzusammenhängend erzählten Lego-Produktgeschichte. Zumindest läßt die Firma durch solche kleinen Zeichen erkennen, daß sie sich ihrer Geschichte bewußt ist. Und daß sie das Vorhandensein von mehreren Generationen Spielkindern anerkennt, welche ihre Verbundenheit zu Lego schon vor Jahrzehnten geknüpft und nie gelöst haben.

Das Lego-Movie von 2014 bot Gelegenheit, verschiedene Themenwelten und Epochen der Lego-Geschichte miteinander zu verknüpfen, wobei freilich einige Themen nur beiläufig erwähnt werden konnten, während andere stark verfremdet durch andere popkulturelle Einflüsse dargestellt wurden. Die Piratenwelt wurde repräsentiert durch MetalBeard, der ein Schiff in Steampunk-Optik befehligte. Das hatte mit den gewohnten Lego-Piraten natürlich nichts zu tun, und mit Blick auf die jüngsten Versuche Legos, Piraten ins Kinderzimmer zu bringen, war das auch gut so, wurden diese doch mit den Jahren immer halbherziger. Der einzig legitime Botschafter für Legos Piratenthema ist seit jeher Captain Roger von 1989.

Captain Roger entspricht in allem den Klischees eines Piratenkapitäns: Roter Bart, Holzbein, Hakenhand und Augenklappe (weil das Auge durch die allzu häufigen Sonnenbeobachtungen durch den Sextanten geschädigt ist), und am schwarzen Zweispitz prangen Schädel und die gekreuzten Knochen des Jolly Roger. Und Polly möchte einen Cracker. Diese Darstellung ist in ihrer unrealistischen Comichaftigkeit absolut angemessen fürs Kinderzimmer, und als solches ist Captain Roger eine ewigjunge Ikone dieses Spielthemas. Das hat Lego schließlich selbst eingesehen und bei den Aufgüssen des Piratenthemas von 2009 und 2015 (wie schon erwähnt: beide Male halbherzig!) die Gestaltung der neuen Kapitäne auffällig eng an diesen Veteranen der 80er Jahre angelehnt, ohne freilich die schlichte Eleganz des Originals zu erreichen. Wie dem auch sei, in MetalBeards Steampunk-Schiff namens „Sea Cow“ wird die Kajüte geziert durch eine 2×4-Fliese, auf die ich ausnahmsweise den zugedachten Aufkleber anbringen mußte, denn er zeigt das Bildnis von Captain Roger:

„Das gehört in ein Museum!“ Genau. Nachdem ich das Schiff, welches jahrelang hier zustaubte, endlich abgewrackt und wegsortiert hatte, blieb das Gemälde übrig, und ich konnte es einem Museum überantworten.

Das Werk eines unbekannten Meisters zeigt Kapitän Roger in lauschiger Nacht. Dunkle und gedeckte Farben, schwarz und blau, sind vorherrschend, Gesicht und definierende Attribute sind hell hervorgehoben. Das vertikale Format legt nahe, dieses Bild als Bestandteil eines Triptychons zu begreifen, was in seiner religiösen Konnotierung den Status des Dargestellten als Ikone unterstreicht. Über die fehlenden Elemente und Motive des Dreiteilers können lediglich Mutmaßungen angestellt werden, da diese verschollen sind; denkbar auf der Mitteltafel wäre des Kapitäns Schiff „Schwarzhai“, jen- und schmalseits flankiert von einem Weggefährten des Seeräubers, über dessen Identität zu spekulieren sich verbietet. Uns bleibt es, das vorgelegte Artefakt zu betrachten. Der Kapitän dominiert das Bild, die an seinem Hut angebrachten wichtigen Insignien seines Berufsstandes sind ins Zentrum gesetzt. Tendenziell am Rande, jedoch durch auffällige Farbgebung hervorgehoben und dadurch in seiner Bedeutung als Symboltier erhöht ist der Begleiter Rogers, der Papagei Polly. Auf detaillierte Ausgestaltung der Kleidung legt der Künstler geringen Wert, er beschränkt sich auf Andeutungen und Hinweise, gestattet sich auch die Freiheit, die Wirklichkeit der Bildgestaltung zu unterwerfen und die versehrte Hand des Freibeuters von Backbord nach Steuerbord zu verlegen, während Holzbein und Augenklappe an gewohnter Stelle verbleiben. Somit ist der Vermutung die Grundlage entzogen, es handele sich um ein Selbstbildnis im Spiegel. Vielmehr ist das Sujet durch die – wiederum ein religiöses Konnotat – Palmwedel des Bildhintergrunds in tropischen Gefilden situiert, in Kenntnis der Geschichte einzugrenzen auf die Karibik. Wir begegnen dem Schiffsführer also beim nächtlichen Landgang, der zum Genuß eines Feierabendrums genutzt wird, wie uns schließlich durch das Faß, beinahe versteckt in der rechten unteren Bildecke angeordnet, bedeutet wird. Ausgelassen sind Schwert und Pistole, welche Roger als Ausüber von brutaler Gewalt kennzeichnen und als den Bringer von Tod und Verwüstung charakterisieren würden, vielmehr bemüht sich die Darstellung um Verharmlosung und Verklärung des Piratenlebens, die immanenten Gefahren außer Acht lassend.

Der Einfluß dieses Gemäldes auf die karibische Kunstgeschichte ist mit „immens“ nur unzureichend beschrieben. Kraftvollere Begriffe sind am Platze, eingedenk der Wirkung, welche das Schaffen des Portraitierten auf die großen wie kleinen Antillen ausübte. Der Kapitän eines der gefürchtetsten Piratenschiffe zwischen Savannah und Maracaibo, zwischen Panama und Hispaniola, muß zwangsläufig einen Machtfaktor in seinem Wirkungskreis darstellen, zumal seine signifikante persönliche Erscheinung begleitet von Kanonendonner und der scheinbaren Unabhängigkeit von Zeit und Raum, beflügelt von der Schnelligkeit seines Schiffs, ihm den Anschein nahezu gottgleicher Machtfülle verlieh. Die gezeigte Repräsentation des Freibeuters verweist mit ihren kodifizierten Merkmalen: Jolly Roger als Insignium der Macht, Holzbein und Augenklappe als spezifische Attribute ähnlich traditionellen Heiligendarstellungen, Papagei als Symboltier, wie wir es von den Evangelisten kennen, auf einen religiös motivierten Kontext. Roger ist demnach mehr als ein einzelner Pirat; er verkörpert die Transzendenz des Glücksritters von Hoffnung zu Sehnsucht und von Gewalt zum Erfolg, die diesen Berufsstand wie eine Gloriole umgibt und deren Wirkmächtigkeit bis heute anhält. Die Faszination ist ungebrochen und findet ihren Nachhall in zahllosen literarischen und cineastischen Bearbeitungen von unterschiedlichster Schaffenstiefe.

Und jetzt: Licht aus, und Ruh‘ im Schiff!