Buch der Woche: Die kleine Hexe

Harzgebirge. Gegend von Schierke und Elend. Kennt man ja. Dort- selbst, nämlich auf dem Brocken, erholen sich zur Stunde unzählige junge Menschen vom Tanz ums Feuer, den sie veranstalteten, weil sie sich für Hexen (und Zauberer) hielten, oder weil sie einfach Bock* drauf hatten. Die Möglichkeit des Hexeseins sollten diese jungen Menschen auch tunlichst nicht allzu nah an sich heranlassen, denn es kann sich da lediglich um Wunschdenken handeln. Weshalb das so ist, wird im heutigen Buch Otfried Preusslers erläutert.

*) Im Faust heißt es: „So geht es über Stein und Stock, / Es f—t die Hexe, es st—t der Bock.“ Was Goethe dort unkenntlich gemacht hat, möge sich jeder selbst zusammenreimen.

Einst begab sich die kleine Hexe in der Walpurgisnacht ebenfalls auf den Blocksberg, um lustig mit den anderen Hexen ums Feuer zu tanzen. Leider hätte sie das nicht gedurft, denn im zarten Alter von einhundertsiebenundzwanzig Jahren war sie nach dem Dafürhalten der älteren Hexen noch zu klein für dieses Tanzvergnügen. Nachdem sie jedoch zunächst unerkannt das Spektakel genießen konnte, wurde die Wetterhexe Rumpumpel denn doch auf sie aufmerksam und fing das Zetern an. Die kleine Hexe wurde vor die Oberhexe gezerrt und mußte sich verantworten. Für dieses Jahr wurde ihr die weitere Teilnahme verweigert, aber immerhin wurde ihr erlaubt, im folgenden Jahr mitzutun, wenn sie bis dahin eine gute Hexe geworden wäre, was sie vermittelst einer gestrengen Prüfung unter Beweis zu stellen hätte. Doch zur Strafe für ihr unerlaubtes Erscheinen warf man ihren Besen ins Feuer, so daß sie auf Schusters Rappen den Tanzplatz verlassen und sich zurück zu ihrem kleinen Häuschen im Wald begeben mußte. Was für eine Pleite!

Na abér! Die kleine Hexe schwor sich, bis zur nächsten Walpurgisnacht eine gute Hexe zu werden und täglich sieben Stunden zu üben und zu lernen und im großen Hexenbuch zu studieren. Zum Glück war sie noch jung und lernfähig. Ihr sprechender Rabe Abraxas konnte ihr da nur beipflichten. Also wurde die kleine Hexe eine gute Hexe und tat innert eines Jahres ungefähr dieses: Sie half armen Holzweibern, den garstigen Förster davon zu „überzeugen“, ihnen das Holzklauben zu genehmigen; verhalf einem ebenso armen Waisenkind zu einem unverhofften Verkaufserfolg seiner Papierblumen; trieb einem Bierkutscher das Peinigen seiner Gäule aus; lud zwei verirrte Kinder (nicht Hänsel und Gretel, sondern Thomas und Vroni) zum Kaffetrinken ein und führte sie auf den rechten Heimweg, rettete späterhin noch deren Lieblingsochsen vor dem Geschlachtetwerden anläßlich des Schützenfestes; wärmte einem Kastanienverkäufer in bitterer Winterskälte die klammen Finger; erteilte bösen Buben, welche Kindern ihren Schneemann zerstörten, eine saftige Lehre; veranstaltete für die Tiere des Waldes ein lustiges Fastnachtsfest; brachte einen verschwenderischen Kegelbruder dazu, sich doch wieder auf die Versorgung seiner Familie zu besinnen; und rettet das Gelege von Abraxas’ Rabenbruder vor knabenhaften Eierdieben. Mit all diesen guten Taten im Portfolio sah sich die kleine Hexe wohl gewappnet, um der Hexenprüfung entgegenzutreten.

Dann nahte wieder die Walpurgisnacht. Am Vortag wurde die kleine Hexe für Mitternacht an den Kreuzweg hinter dem roten Stein in der Heide einbestellt, um vor dem Hexenrat die Prüfung abzulegen, die über ihr weiteres Hexenleben bestimmen sollte. Erwartungsgemäß konnte die kleine Hexe alle ihr gestellten Zauberaufgaben mit Bravour bewältigen. Die Oberhexe nickte zufrieden, beschied der kleinen Hexe, eine gute Hexe zu sein, und erlaubte ihr fürderhin, auf der Walpurgisnacht mitzutanzen, es sei denn, es hätte eine der Anwesenden Einwände gegen dieses Urteil?

O ja, einen Einwand hatte Rumpumpel, die Wetterhexe! Wiewohl die kleinen Hexe zufriedenstellende Ergebnisse in der Hexenkunst erzielt habe, sei sie dennoch eine schlechte Hexe, wie sie, Rumpumpel, zu beweisen im Stande sei. Und mit diesen Worten zog sie einen Zettel hervor und verlas, was die kleine Hexe im Verlaufe des Jahres alles gehext hatte. Die kleine Hexe lauschte dieser Aufzählung schmunzelnd, doch die Gesichter der anderen Hexen verfinsterten sich. Tja, klassisches Mißverständnis. Eine gute Hexe hat nicht Gutes zu hexen, sondern Böses. In ihrer Wut vermöbelten die alten Hexen die kleine Hexe mit ihren Besenstielen, und außerdem sollte sie ganz alleine den Scheiterhaufen fürs Walpurgisfeuer zusammentragen – und dann nicht am Tanz teilnehmen dürfen.

Aber so leicht ließ sich die kleine Hexe nicht ins Bockshorn jagen. Sie hatte einen Plan. Mit dem Aufschichten des Feuerholzes ließ sie sich Zeit, sehr viel Zeit, so viel Zeit, daß der Rabe Abraxas schon ganz unruhig wurde, aber er werde schon sehen, beruhigte ihn die kleine Hexe. Und dann, eine Viertelstunde vor Mitternacht, ehe der Tanz beginnen sollte, sprach sie einen Hexenspruch, und es zischten die Flugbesen der großen Hexen herbei und schichteten sich zum Scheiterhaufen. Und ebenso flatterten die Hexenbücher der anderen Hexen herzu und mischten sich unter den Besenhaufen, welchen die kleine Hexe nun anzündete. Zuguterletzt sprach die kleine Hexe den finalen, ultimativen Zauberspruch – sie hexte den großen Hexen das Hexen ab. Nun war die kleine Hexe die einzige zauberkundige Hexe auf der Welt, denn ohne ihre Hexenbücher konnten die anderen Hexen es ja nicht wieder erlernen. Zufrieden mit sich und der Welt stiebte die kleine Hexe um das große Feuer und feierte die Walpurgisnacht.

Und darum können alle anderen, die sich für Hexen halten, es schlechterdings nicht sein.

Das gezeigte Hexenbuch findet sich im Set 5804 und ist die einzige Quelle für braune Bücher. Eine magentafarbene Version desselben Buches ist Teil des Sets 5962.

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