CD-Regal revisited: Anathema.

11. März 2017


Bannfluch!!!! heißt das. Ein Name, der jedenfalls einer Doom-Death-Goth-Metal-Band würdig ist.

Ungefähr im Jahre 1999 vertrieb ich mir die Zeit nach der Vorlesung bei meinem Freund Bernhard. Er, kulturbeflissener Geigenspieler und kurzhaariger Headbanger, der er ist, legte Musik auf. Musik! Schöne, kraftvolle, moll-gestimmte Musik. Es war dies das Album „alternative 4“ von Anathema. Ich kannte die Band nicht, war aber unmittelbar überzeugt. Es kann nicht lange gedauert haben, bis ich mir im Plattenladen das Album ebenfalls kaufte. Und dann noch eins. Und noch eins.

Gestern kam ich kaum ins Bett, weil ich mich bei Youtube durch Anathema-Videos hörte. In der Kommentarspalte unter einem der Videos sprach ein User davon, daß er gerade (also vor vier Jahren oder so, als das Video halt hochgeladen wurde) „binge hearing“ von Anathema-Songs betreibe. „Gute Idee“, dachte ich mir da, „mache ich ja im Prinzip auch gerade.“ Aber natürlich habe ich es nicht nötig, mich durch zufällige Videos zu klicken, die mir in der Vorschlagsspalte angeboten werden, sondern ich kann strukturierter vorgehen; mein Plattenschrank gibt’s her und mein Naturell erfordert’s.

Ich bin ja Sammler, falls das schon mal wem aufgefallen ist. Mit Musik verhält sich das kaum anders als mit Lego; prinzipiell strebe ich Komplettheit an. Zu meinem Glück muß ich allerdings nicht Erstveröffentlichungen auf Vinyl sammeln, sondern mir kommt es auf den Inhalt an. Die oberste CD im oben abgebildeten Stapel ist die auf einem Tonträger zusammengefaßte Wiederveröffentlichung zweier EPs: „The Crestfallen EP“ und „Pentecost III“, ursprünglich von 1992 und 1995. In Vor-Internet-Zeiten hätte ich mich in Fachmagazinen wie etwa der „Rock Hard“ informieren können, tat ich aber nicht. Vielmehr schaffte ich bei meinen Einkaufsgängen nach und nach in wahlloser Reihenfolge diejenigen CDs an, die ich halt noch nicht hatte, irgendwann dann eben auch diese Doppel-EP. Nun, da ich strukturiert vorgehe, lege ich sie also als erstes auf…

Weg, CD, einlegen, Booklet aus der Hülle nehmen, den dumpfen, schleppenden Klängen von jungen langhaarigen Death-Doom-Musikern lauschen.

Okaaay. Wie ich befürchtet hatte, der Hörgenuß ist getrübt. Zwar wird an diesem frühen Werk der Band bereits deutlich, daß die Jungs ihre Instrumente beherrschen und in der Lage sind, wohlgesetzte Harmonien zu erzeugen. Auch mit der Thematik der Texte und der depressiven Grundstimmung der Musik kann ich umgehen. Jedoch, der genretypische gutturale Sprechgesang, das Growling, den die Death-Doom-Szene sich als Stilmittel auserkiesen zu müssen meinte, schmeichelt nicht meinem Ohr. Sorry, ihr Todgeweihten, euch mag dieses Kernelement eurer Musik wichtig sein – mir nicht. Fangen wir zum Beispiel mal vorne an: …And I Lust


Gut, die ersten fünf Stücke auf der CD entsprechen der Crestfallen-EP, danach wird erst mal das Album „Serenades“ aufgelegt.

„Serenades“ ist das erste richtige Album von Anathema, Jahrgang 1993. Und wiewohl auch hier noch arg gegrowlt wird, zeichnet sich eine Tendenz zu klarerem Gesang hin ab. Das dritte Stück „J’ai Fait une Promesse“ wird gar mit glockenheller Mädchenstimme dargeboten. Musikalisch ist ebenfalls eine deutliche Entwicklung erkennbar, insofern der Sprechgesang weniger dominant ist und die Melodien in den Vordergrund treten. Den Anhängern der Szene gilt das Album wohl als Klassiker, mir nicht unbedingt, aber es ist hörbar. Den Schluß bildet eine Keyboard-Collage von pinkfloydesken Ausmaßen: 22 1/2 Minuten. Als Hörbeispiel empfehle ich jedoch der Tageszeit entsprechend Sleepless:


Zurück zur EP. Die Chronologie erfordert es, die zweite Hälfte zu hören, welche der „Pentecost III“ entspricht.

Natürlich ist der Gesang auch hier noch düsterer Sprechgesang aus tiefster Kehle, aber stilistisch schließt sich diese EP nahtlos an das vorangegangene Album an, und das ist gut. Für mich als Genrefremden ist die zweite Hälfte der CD jedenfalls eingängiger als der doch etwas schrammelige Beginn. Aber eigentlich liegen ja auch fast drei Jahre Entwicklung dazwischen. Kingdom:


So, EP raus und das zweite Album rein: The Silent Enigma.

Dieses Album wurde 1995 veröffentlich, und wie ich soeben recherchierte, hat der Sänger gewechselt: Statt des ausscheidenden Darren White übernahm Vincent Cavanagh. Nach meinem Dafürhalten war das kein Verlust. Der Stil ist nun eher dem Gothic Metal zuzuordnen, die Vocals würden von meiner Mama weiterhin nicht als Gesang anerkannt werden, haben aber immerhin nicht mehr den Hang zum Grunzen. Ich, der ich vom späteren Album „alternative 4“ ausging, erkenne in der Melodieführung und den Arrangements der Lieder aber schon den typischen Anathema-Stil, der mich zu Beginn so gefesselt hatte. Familie Cavanagh und Consorten sind Meister der melancholischen Melodiösität. Gleichzeitig schaffen sie es, durch Tempiwechsel und was weiß ich, was für musikalische Kabinettstückchen (ich bin so unmusikalisch, daß ich kaum als Banause tauge), die einzelnen Songs auch anspruchsvoll und interessant zu halten. Wiewohl also der Gesangsstil auf diesem Album noch nicht der von mir favorisierte ist, fallen für mich Melodien und Instrumentalisierung stärker ins Gewicht. Insbesondere eingedenk der pseudo-mythologischen Thematik klingt das Album, als sei es die Vertonung eines Gemäldes von Arnold Böcklin, wenn nicht gar Gustave Dorés. Als Höreindruck sei gegeben A Dying Wish:

Bereits ein Jahr nach „The Silent Enigma“ legten die Kreativbiester von Anathema „Eternity“ vor, also 1996. Vincent, der schon auf dem Vorgängeralbum den Gesangspart übernommen hatte, fühlte sich nun nicht mehr verpflichtet, deathmetalmäßig zu growlen, sondern sang klar. Vermutlich wandte sich manch Szenekundiger tiefenttäuscht ab, ich aber begrüße diesen Stilwechsel. Überdies erweiterten Anathema ihre musikalischen Ausdrucksmittel um das Piano; der Hörer wurde direkt in der Eröffnungssequenz mit Tastenklängen überrascht. Auch die Songstrukturen änderten sich: Waren vordem manche Lieder 8 bis 10 Minuten lang, zum Teil länger, so erreicht auf „Eternity“ kein Song die 6-Minuten-Marke. Dafür gehen die Lieder zum Teil ineinander über, und der Titeltrack ist sozusagen in drei Stücke aufgeteilt. Als besonderes Schmankerl darf Roy Harpers Wortbeitrag angesehen werden, mit dem er das Lied „Hope“ einleitet, welches wiederum Anathemas Coverversion von Roy Harpers gleichnamigen Song ist. Und da Harper zudem ein Pink-Floyd-Intimus ist, der 20 Jahre zuvor auf „Wish You Were Here“ mitspielte, schließt sich auch dieser Bogen, denn ein gewisser Pink-Floyd-Einfluß ist dem gesamten Album nicht abzusprechen. Das alles war mir damals, als ich mich erstmals in Anathema einhörte, natürlich nicht bewußt. Mein Zugang zu Anathema vollzog sich ungefähr über den selben Zeitraum, in dem ich mir auch Pink Floyd erschloß, aber durchaus unabhängig von einander. Mein Musikgeschmack ist also vielleicht doch nicht so divergent, wie ich dachte, oder zumindest in diesen beiden Zweigen sehr konsistent. Vielleicht hängt auch bloß alles mit allem zusammen, ’ne liegende 8, Eternity:

Nun also 1998, nun also „Alternative 4“. Wie meine Recherche ergab, geht der Albumtitel auf „Alternative 3“ zurück, eine Pseudo-Dokumentation des britischen Fernsehens in der Tradition von Orson Welles’ „The War of the Worlds“: Es ist nicht so, wie es scheint. Freilich stehen weitere Deutungsmöglichkeiten zur Verfügung. Anathema stammen aus Liverpool. Wer sonst stammt aus Liverpool? Richtig, die „Fab Four“! Vielleicht sind Vincent und Danny Cavanagh, Duncan Patterson und Shaun Steels als Line-up auf diesem Album ja die „Alternative Four“, hm? Außerdem handelt es sich hier um das vierte Album der Band. Wie auch immer. Das Album ist deutlich geprägt von atmosphärischen Passagen und dem Willen zum Experiment; neben zum Teil programmierten Drum-Sequenzen kommt eine Geige zum Einsatz. Die Grundstimmung ist gewohnt düster, die Songs handeln von widersprüchlichen Gefühlen, Unsicherheit, innerer Leere und Zerrissenheit. Themen, die weit über das klassische Death-Doom-Sujet hinausgehen, und schon lange nicht mehr ins Gewand dieses Genres gehüllt sind. Vielmehr schlägt Anathema den Weg in Richtung Progressive Metal oder Alternative Rock ein. Die einst so depressiven Jungs haben sich weiterentwickelt, es blieb die Melancholie als alles verbindendene Klammer. Ob man „Alternative 4“ darob schon als Konzeptalbum bezeichnen kann, weiß ich nicht, hielte das aber auch nicht für allzu weit hergeholt. Genuß ohne Reue, Regret:

Es ist 1999, und Anathema drucken neue Visitenkarten: Auf dem fünften Album „Judgement“ prangt das Band-Logo erstmals nicht in der gewohnten Romantic-Death-Metal-Optik. Diese vorletzte Verbindungsfaser zur längst fremden Vergangenheit wäre also gekappt. Die letzte Verbindung ist freilich der Name, aber den ändert man ja nicht so leichthin. Stilistisch läßt sich das Album wiederum als Alternative/Progressive Rock/Metal einordnen. Wenn man es denn überhaupt der Mühe wert erachtet, die Musik dieser Band zu kategorisieren. Sowieso habe ich den Eindruck, daß bisweilen die Bezeichnungen „Rock“ oder „Metal“ vor allem zugeschrieben werden, weil eine Band ihre Wurzeln in diesen Genres hatte, ohne aber nun überhaupt noch viel damit zu tun zu haben. Aber meinetwegen, sofern sie zum Einsatz kommen, sind die Drums satt und die Gitarren prägnant, nennen wir es Metal. Daß Anathema aus dem Tongeschlecht derer von Moll stammen, sollte inzwischen klargeworden sein. Und dieses Mal haben die Gebrüder Cavanagh, Herz und Hirn der Band, auch echten Grund zur Trauer, denn ihre Mutter Helen ist gestorben; ihr sind das Album und der Song One Last Goodbye gewidmet:


So. Erstmal zwischenspeichern und ins Bett gehen. Hatte ich ernsthaft geglaubt, an einem Abend mal eben zwölf einstündige Alben durchhören und nebenbei einen Blogbeitrag schreiben zu können? Naivling!
[Mehrere Stunden später]
Weiter geht’s. Zwischendurch wechselte das Millennium, wir schreiben das Jahr 2001, die Sonne scheint, a fine day to exit.

Zufällig ist das auch der Titel des sechsten Anathema-Albums. Dieses mußte man zwar weiterhin in der Hard-n-Heavy-Metal-Abteilung des Plattenladens suchen, besser aufgehoben wäre es aber zum Beispiel neben Radiohead, so denn die alphabetische Sortierung solches zuließe, denn mit Metal hat das alles nichts mehr zu tun. Was freilich nicht bedeutet, daß die Musiker ihr Stimmungstief überwunden hätten, im Gegenteil. Die innere Zerrissenheit bleibt, die Texte handeln von verschiedenen psychischen Stresszuständen und dem möglichen Umgang mit diesen. Der Titel und die Gestaltung des Titelbildes lassen keinen Zweifel: Selbstmord wird in Betracht gezogen. Musikalisch dominieren ruhige Moll-Töne, bisweilen abgelöst von eher getriebenen Passagen. Mein Windows-Media-Player möchte das Album unter „Pop“ einsortieren; so weit würde ich nicht gehen. Als Höreindruck Leave No Trace:

Das Jahr 2003 sieht „a natural disaster“, mithin das siebte Album von Anathema. Die Gebrüder Vincent und Danny Cavenagh haben hier ihren Bruder Jamie zurück ins Boot geholt, und der Trend geht mit druckvolleren Drums und prägnanteren Gitarren wieder etwas zum Metal (was sogar mein Media-Palyer anerkennt). Das Booklet stellt die Songtexte als eine fortlaufenden Textur dar, was gut zum Aufbau des Albums paßt, wo die Lieder einen fast nahtlosen Klangteppich bilden. Traurig sind die Jungs immer noch, und sie verstehen es, diese Stimmung durch die Musik zu transportieren. Bei wem das Lied „Flying“ keinen Klos im Hals erzeugt, der hat keinen Hals!

Dann kam längere Zeit nichts, bis 2008 das Album „Hindsight“ erschien. Es ist dies freilich kein wirklich neues Album, sondern eine Zusammenstellung älterer Lieder von vorherigen Alben in neuem Arrangement. Da bei MTV ja keine Musik mehr läuft, mußte die Band sich ihr Unplugged-Album selbst zusammenstellen. Üblicherweise vermeide ich Best-of- und Komplilations-Platten, weil ich das alles ja schon auf den eigentlichen Alben habe, aber durch die akkustischen Neueinspielungen wurden es hier fast neue Lieder. Das ist auch alles sehr schön, aber. Beim Durchhören muß ich feststellen, daß mich die neue Gestalt der Songs eher irritiert. Hier covert die Band zwar ihr eigenes Material, aber der Effekt ist – zumindest für mich – derselbe: Ich ziehe das Original vor. Das einzige neue Stück auf der Platte ist Unchained (Tales of the Unexpected):

„We’re here because we’re here“, jubelten Anathema schließlich im Jahre 2010. Die langjährige Background- und Gastsängerin Lee Douglas wurde endlich als unverzichtbarer Bestandteil offizielles Bandmitglied, und das scheint den Jungs gutgetan zu haben. Die düstere Stimmung ist verflogen, das Album klingt geradezu lebensbejahend. Nein, streiche „geradezu“, es ist lebensbejahend. „Suddenly / Life has new meaning / Suddenly / Feeling is being“, heißt es im Song „Dreaming Light“. Sehr schön! Brauchen wir uns also einstweilen keine Sorgen zu machen. Sogar der Mensch, der auf „A Fine Day To Exit“ ins Wasser gegangen war, scheint hier der alles verschlingenden See wieder entstiegen zu sein. Summernight Horizon:

Anathema haben über Jahre atmosphärisch dichte Klänge erzeugt. In der Atmosphäre entsteht das Wetter, und das 2012er Album „Weather Systems“ trägt somit den passenden Namen. Einige Songs sind auch nach Wetterphänomenen benannt, was aber natürlich vor allem metaphorisch zu verstehen ist; inhaltlich geht es um die Stellung des Menschen in der Welt. Die Band-Mitglieder scheinen 20 Jahre nach ihrer düsteren Death-Doom-Phase nun endlich angekommen zu sein und Ruhe gefunden zu haben, doch auf dem Wege dahin wurden sie von den Stürmen des Lebens zerzaust. Dies findet seinen Widerhall in den Liedern dieses Albums, die teils lieblich dahinsäuseln, teils eine Wucht entfalten wie eine Klopstock-Ode. (Siehe das Paralipomenon zu diesem Blogbeitrag: Klopstock.) Als Beispiel sei genannt The Storm before the Calm:

Und schließlich und endlich, 2014, erschien das vorerst letzte Anathema-Album: „Distant Satellites“. Per aspera ad astra! Geboren in der Doom-Hölle, allen Unbilden des Lebens zum Trotz bis ans Meer vorgekämpft, kurz abgetaucht, erfrischt dem Ozean entstiegen und in atmosphärische Höhen aufgestiegen, das waren Anathema bis hierhin. Nun also greifen sie nach den Sternen. Der Vergleich mit Pink Floyd wurde ja oft bemüht, traf auch häufig ins Schwarze, wurde vielleicht ebenso häufig überstrapaziert. Aber jedenfalls zählten Pink Floyd seinerzeit zur Space-Rock-Fraktion innerhalb des Psychedelic Rock. Sphärische Klänge sollten den Hörer gleichsam schwerelos auf einem Klangteppich schweben lassen. Nun also schießen Anathema einen Satelliten hoch, und an spärischen Klängen mangelt es ebenfalls nicht. Der Kreis schließt sich also. Aber hm, der Kreis schließt sich. Langsam wird’s selbstreferentiell, der sechste Song auf dem Album heißt sogar „Anathema“. Der Kreis schließt sich. Die elegischen Loops und sphärischen Passagen haben inzwischen eine Intensität erreicht, welche die Songstrukturen in bloßen Klang aufzulösen droht. Fehlte mir zu Beginn der Anathema-Reise der Zugang zum schrammeligen Doom-Gegrunze, so entgleitet mir am Ende das Interesse an den hochfeinen Space-Klängen. Vielleicht bin ich nach 12 Stunden des Dauerhörens (mit Schlafpause) aber auch bloß akut übersättigt. Jedenfalls: Anathema

Die Hörbeispiele sind fremdeingebunden und sollen lediglich einen Eindruck vermitteln. Ich empfehle selbstverständlich den Kauf der Tonträger.

Nachtrag am 27sten März 2017:
Gerade erfuhr ich, daß Anathema am 9ten Juni dieses Jahres ein neues Album veröffentlichen werden. „The Optimist“ wird es heißen. Einen Höreindruck gibt es ebenfalls schon: Springfield