Konnten Pink Floyd nach dem Band-Austritt von Roger Waters also als aufgelöst betrachtet werden? Ja. (Waters zufolge.) Nein. (Gilmour zufolge.) Um dieses sein Ansinnen zu unterstreichen, veröffentlichte dieser 1987 das Album „A Momentary Lapse Of Reason“, zu Deutsch etwa „Ein vorübergehendes Aussetzen des Verstandes“. Ja, das kann man so sagen.
A Momentary Lapse Of Reason
Bis dahin waren Pink Floyd eine Band gewesen, die sich durch eine sehr dauerhafte Besetzung ausgezeichnet hatte. Nach dem ersten Album war zwar Syd Barrett mehr oder weniger, und nach dem zweiten Album vollständig durch David Gilmour ersetzt worden, und Rick Wright war mit „The Wall“ ausgeschieden; aber im Kern war Pink Floyd bekannt und erfolgreich in der Besetzung Waters/Mason/Wright/Gilmour, nur vereinzelt unterstützt durch Dick Parry am Saxophon, mit Gastauftritten von Clare Torry und Roy Harper, nicht zu vergessen auch Ron Geesin nebst Chor und Orchester auf „Atom Heart Mother“. Auf dem vorliegenden Album jedoch…
„Pink Floyd“ steht drüber, Nick Mason und David Gilmour sind abgebildet, aber die Besetzungsliste führt 19 (neunzehn) Musiker auf, darunter neben Nick Mason vier weitere Schlagzeuger und/oder Perkussionisten. Die Liste läßt sich überdies erweitern durch vier zusätzliche Song-Schreiber (die nicht Mitglieder der Band Pink Floyd sind) neben dem Produzenten Bob Ezrin, die bei den einzelnen Tracks angegeben sind. Das liest sich nicht wie ein Album, das von einer Band mit einem kohärenten Plan als Gruppe geschaffen wurde, sondern wie ein Solo-Album mit Gast-Musikern, nämlich David Gilmours Solo-Album, aber unter dem zugkräftigen Namen „Pink Floyd“. In your face, Roger Waters! Rick Wright ist als Gast-Musiker übrigens auch vertreten; aus vertraglichen Gründen durfte er nicht als Band-Mitglied aufgeführt werden, was aber auch keinen Unterschied gemacht hätte.
Die Titelgestaltung oblag traditionsgemäß Storm Thorgerson, ebenfalls als Solo-Künstler, da seine Agentur „Hipgnosis“ seit 1985 nicht mehr existierte. Das aufwendige Betten-Bild hat als Cover durchaus Kraft, jedoch wird es beschnitten durch zeittypische spät-80er Graphik-Elemente, die benutzt werden mußten, weil ja jetzt Computer verfügbar waren. Insofern paßt es perfekt zum Sound des Albums, der ebenfalls sehr 80er-typisch ist, mit Synthesizern und Hall.
David Gilmour war erkennbar darum bemüht, den typischen Pink-Floyd-Sound, der auf „The Final Cut“ so schmerzlich vermißt wurde, wieder aufleben zu lassen. Zu diesem End waren sicher der vermehrte Einsatz von Keyboards und vielleicht sogar Fast-Mitglied Rick Wright hilfreich. Demgegenüber fehlt naturgemäß das aggressiv-prägnante Baßspiel von Roger Waters, wiewohl in Person von Tony Levin ein prominenter Ersatz gefunden wurde.
Lassen wir doch zwischendurch mal „Yet Another Movie“ erklingen, bereitgestellt von Pink Floyds eigenem Youtube-Kanal:
Nun, da ich das Album nach langer Zeit mal wieder höre, finde ich es gar nicht so schlecht. Es klingt vielleicht etwas zu bombastisch, ist klanglich ganz sicher zu deutlich in den 80er Jahren verortbar, aber abgekoppelt vom Namen „Pink Floyd“ kann es was. Ein Konzept-Album durfte man unter den gegebenen Umständen nicht erwarten, und es ist auch kein solches. Sicher gibt es Hörer, die durch dieses Album zum allerersten Mal überhaupt mit Pink Floyd in Berührung kamen und dies für den ultimativen Pink-Floyd-Klang halten, aber höre ich es in Reihe mit klassischen Alben wie „Meddle“, „Dark Side Of The Moon“, „Wish You Were Here“ oder „Animals“, läßt es doch Wünsche offen. Und ich kann ja nicht einmal von mir behaupten, die Band in ihrer Blüte, nämlich eben in den 70er Jahren, bewußt erlebt zu haben.
Trotzdem besitze ich „A Momentary Lapse Of Reason“ auch als Schallplatte.
Delicate Sound of Thunder
Selbstverständlich gingen Pink Floyd mit dem neuen Album im Seesack (völlig sinnlose Wortwahl, wollte mich bloß etwas abheben) auch auf Tour. Sehr viel weniger selbstverständlich ist, daß im Jahre 1988 auch ein Live-Album veröffentlicht wurde, war es doch nach der ersten Hälfte von „Ummagumma“ und dem Konzertfilm „Live at Pompeji“ erst der dritte offizielle Live-Release von Pink Floyd; das Live-Album zur Wall-Tour erschien erst im Jahre 2000. Und da ich selbst mich die längste Zeit gar nicht für Live-Alben interessierte, nahm ich es erst kürzlich mit, als es beim Gebraucht-CD-Händler halt so rumstand und den Daumen rausstreckte. (Schon wieder so sinnlos, diese Wortwahl.)
Das Album, also darf man annehmen: auch das Konzert, beginnt direkt mal mit dem fast 12minütigen „Shine On You Crazy Diamond“, womit alle Konzertbesucher unmittelbar im Boot gewesen sein dürften. (Mit Seesack. Hmpf.) Im Folgenden wird das aktuelle Album abgehandelt, sechs der zehn Songs werden zur Aufführung gebracht: „Learning To Fly“, „Yet Another Movie“, „Round And Around“, „Sorrow“, „The Dogs of War“ und „On The Turning Away“. Die Live-Behandlung tut den Songs gut. Beispielhaft „Learning To Fly“:
Die zweite Scheibe ist dann eine Greatest-Hits-Revue, die allerdings mit „One Of These Days“ eingeleitet wird. Es folgen „Time“, „Wish You Were Here“, „Us & Them“, „Money“, „Another Brick In The Wall part II“, „Comfortably Numb“ und „Run Like Hell“. Songs von „The Final Cut“ fehlen, was kaum zur Verwunderung Anlaß zu geben vermag, wiewohl es unvermeidlich war, Lieder zu spielen, an denen Roger Waters Rechte hat. Er verdient also mit, soll er sich mal nicht so anstellen.
Weil es als das Paradebeispiel für David Gilmours Gitarrenspiel gilt, bringen wir hier mal „Comfortably Numb“ zu Gehör, ebenfalls von PFs eigenem Youtube-Kanal:
Wie eingedenk der extensiven Besetzungsliste von „A Momentary Lapse Of Reason“ zu erwarten war, rekrutiert sich auch das Personal dieser Konzertscheibe aus mehr Musikern als den drei Pink-Floyd-Mitgliedern. Guy Pratt zupft den Baß, Scott Page bedient das Saxophon. Außerdem gibt es je einen zusätzlichen Gitarristen, Keyboarder und Perkussionisten, die alle auch Gesangsparts haben, nebst drei Hintergrundsängerinnen. Auf diese Weise bringt man also einen Sound auf die Bühne, der einem den Ruf als larger-than-life Stadion-Rock-Band beschert.
(Nur mal so: „larger than life“ heißt im Deutschen „überlebensgroß“ und bezeichnet eigentlich Statuen, die im Maßstab größer sind als ein Mensch, wie etwa Michelangelos David (5,17 m hoch). Wer das mit „größer als das Leben!“ übersetzt und unironisch so verwendet, ist für mich kein falscher Freund, sondern ein echter Feind.)
The Division Bell
Mit dem 1994er Album „The Division Bell“ durfte sich auch Rick Wright endlich wieder als vollwertiges Pink-Floyd-Mitglied fühlen, sogar mit Writing-Credits. Es hätte dies mein erstes bewußt wahrgenommenes PF-Album sein können, wenn ich nicht erst 1996 überhaupt dieses Bewußtsein entwickelt hätte. Aber das erwähnte ich ja bereits vor über drei Jahren, als ich diese retrospektive Rezensionsreihe begann. Alter! Die Zeit!
Mit diesem Album waren Pink Floyd in der CD-Ära angekommen, bei der Gestaltung des Albumcovers wurde sogar der plastene Griffrand miteinbezogen: In Braille steht da „Pink Floyd“, eine Kordel oder Schlange (?) nebst dem aktuellen PF-Logo sind ertastbar. Abermals war bandfremdes Personal an der Entstehung des Albums beteiligt. Guy Pratt durfte nach seinem vorangegangenen Tourengagement nun auch hier mittun, Dick Parry gibt sich als Saxophonist zum wiederholten Male die Ehre, und war Pink Floyd einst Vorreiter auf dem Gebiet des Samplens gewesen, so erfahren sie nun bei der Programmierung von Percussion und Keyboard Unterstützung durch Gary Wallis und Jon Carin respective. Außerdem ist eine gewisse Polly Samson maßgeblich am Schreiben der Liedtexte beteiligt, wofür David Gilmour sie vom Fleck weg heiratete. Als Special Guest computerspricht Stephen Hawking Zeilen im Song „Keep Talking“, und Douglas Adams warf sein Handtuch in den Ring, als es um den Namen des Albums ging. Hut ab! High Hopes:
„High Hopes“ ist der Titelsong dieses Albums, insofern es Glockengeläut und die Worte „The ringing of the division bell“ enthält. Außerdem ist es auch der Titelgebende Song des folgenden Albums, denn es endet auf die Worte „The endless river / forever and ever“, doch dazu kommen wir noch.
„The Division Bell“ ist ein sehr gutes ..äh.. Poprock-Album. Gelegentlich läßt es Anklänge an die klassische PF-Ära erahnen, mit sehr viel gutem Willen könnte man sogar einen roten Faden spinnen und über den Begriff „Konzeptalbum“ nachdenken, um ihn aber dann doch nicht auf das vorliegende Werk anzuwenden. Alles in allem wirkt es jedoch geschlossener und einheitlicher, mehr als Gruppenarbeit erkennbar als die vorherige Scheibe. Verfolgt man im Internet, namentlich auf Youtube, Album-Hierarchien von PF-Fans und Musik-Connoisseuren, was ich tue, so kann man beobachten, daß „The Division Bell“ erstaunlich oft vordere Plätze in diesen Rankings einnimmt. Das mag an der Gefälligkeit des Materials liegen, die zwiefellos gegeben ist, vor allem im Vergleich mit Alben wie „Atom Heart Mother“, „More“ oder gar „Ummagumma“. Mir ist das freilich zu glatt. Elegische Klangteppiche hin, präzise Gilmour-Gitarre her, ich vermisse die politische Rotzigkeit des Waters’schen Basses.
Pulse
Is’n Live-Album, interessiert mich nicht. So dachte ich jahrzehntelang, bis, hach! es im Gebraucht-CD-Laden stand und mich auffordernd anblinkte. Zuvor hatte ich schon neuere Ausgaben des Albums unbeachtet stehen gelassen, weil sie mich nicht anblinkten, aber hier griff ich dann doch mal zu.
Das geht gar so weit, daß ich die CD nun, jetzt, in diesem Moment, da ich dies schreibe, zum ersten Mal einlege, um sie zu hören. Inzwischen liegt das weniger an etwaig nicht vorhander Liebe für Live-Auftritte von Pink Floyd, denn mittlerweile ist diese Liebe in mir gewachsen. Stundenlang lauschte ich historischen Mitschnitten aus der psychedelischen und programmatischen Phase der Band. Vielmehr weckte speziell diese späte Phase mit ihrem lendengeschürzten Bombastrock mein lebhaftes Desinteresse. Aber jetzt war der Sammeltrieb doch stärker, und seitdem pulsiert es hinter mir im CD-Regal; was für eine Batterieverschwendung!
„Pulse“ ist jedenfalls das 1995er Konzertalbum zur Division-Bell-Tour. Doch ein wirkliches Konzertalbum ist es gar nicht, denn es wurden Aufnahmen aus verschiedenen Veranstaltungen verwendet, die späteste datiert vom 20. Oktober 1994. Das ist insofern schade, als eine Woche später Douglas Adams als Anhalter in diese Galaxis der Spacerock-Veteranen mitgenommen wurde und auf seiner Gitarre Begleitakkorde klampfen durfte.
Und apropos Spacerock: Abermals beginnt das Konzert mit „Shine On You Crazy Diamond“, doch dann folgt „Astronomy Dominé“, welches einst das Debutalbum eröffnete. Es schließen sich an Songs vom aktuellen Album „Division Bell“, von „Momentary Lapse Of Reason“ und „The Wall“. Stephen Hawkings Beitrag zu „Keep Talking“ war dankenswerterweise eh ein Soundschnipsel, so daß der Star-Physiker nicht bei jedem Konzerttermin persönlich anwesend sein mußte. Trotzdem spielen wir hier mal „Astronomy Dominé“ an:
Die zweite Konzerthälfte wird von „Dark Side Of The Moon“ dominiert, welches in Gänze zur Darbietung kommt. Den Abschluß bilden schließlich „Wish You Were Here“, „Comfortably Numb“ und „On The Run“.
Ausgerechnet das reduzierte „Wish You Were Here“ war die Single-Auskopplung aus diesem bombastischen Live-Album.
In der Veröffentlichungshistorie folgte dann im Jahre 2000 „Is There Anybody Out There? The Wall Live 1980–81“, wovon wir es, wie der geneigte Leser sich sicher erinnern wird, bereits bei der Besprechung von „The Wall“ hatten. Hieran schlossen sich zwei Kompilationsalben an, die ich mir schenkte, weil ich von ihrer Existenz nichts mitbekam. Im Jahre 2005 traten Pink Floyd im Rahmen des Live-8-Konzerts gemeinsam auf, und gemeinsam heißt hier: zu viert, Gilmour, Mason, Wright und Waters! War das die langersehnte Versöhnung, die Wiedervereinigung, die Einmottung des Kriegsbeils? Nä. Es war ein publikumswirksamer Fototermin, nichts weiter. Im Jahre 2006 verstarb Syd Barrett. Im Jahre 2008 folgte ihm Richard Wright nach. Und so erschien schließlich und endlich, 20 Jahre nach dem vermeintlich letzten Studioalbum von Pink Floyd, im Jahre 2014:
The Endless River
Was soll man dazu sagen? Dies wäre meine Chance gewesen, auf den letzten Drücker noch ein Pink-Floyd-Album frisch bei Verkaufsstart zu erwerben, und ich ließ sie ungenutzt verstreichen. Meine Erwartungen an dieses Album, bei dem vorab klarwar, daß es keine amtliche Reunion sein würde, waren gedämpft. Richard Wright war bereits 2008 gestorben. Das Verhältnis mit Roger Waters war lange vorher schon tot. Selbst Storm Thorgerson, etatmäßiger Titelgestalter für Pink Floyd, hatte 2013 das Zeitliche gesegnet. „The Endless River“ wurde von David Gilmour und Nick Mason in Erinnerung an Rick Wright aus unveröffentlichtem Studiomaterial zusammengestellt, das bei den Aufnahmen zu „The Division Bell“ übriggeblieben war. Dazu haben Mason und Gilmour auch einiges neueingespielt. Roger Waters war nicht dazu zu bewegen, um alter Freudschaftsbande willen zu diesem Album irgendwas beizutragen. Und so bleibt es denn bei sphärischem Ambient-Sound, Klangteppichen und Collagen. Aber natürlich kaufte ich es dann irgendwann doch.
Da ist manch schöner Klang dabei, es taugt alles ganz gut als Hintergrundberieselung, zum Beispiel in diesem Augenblick. Keine Songtexte irritieren mich beim Schreiben dieser Zeilen, denn es gibt keine, es ist ein fast reines Instrumentalalbum. Einzig Stephen Hawkings Wortbeitrag zu „Keep Talking“ erklingt im Stück „Talkin‘ Hawkin'“, und nach einer Dreiviertelstunde ertönt dann doch noch David Gilmours Stimme, „Louder Than Words“:
Hätt’s das gebraucht? Vermutlich nicht. Vielleicht war das Gilmours Versuch, nach der Erfahrung mit Syd Barretts Schicksal, das in der Band dauerhaft unverarbeitet blieb und als ewiger Schatten über allem lag, wenigstens das Verhältnis zu Rick Wright, das ja in der Wall-Periode ebenfalls zerrüttet war, zu einem würdigen Abschluß zu bringen, wenn auch nur noch posthum. Mit Freund Waters war das aber offenbar nicht angemessen möglich. Schade drum. So oder so wird es nicht „The Endless River“ sein, was von Pink Floyd in Erinnerung bleiben wird. Großartige Musik von, na, sagen wir dreizehn anderen Alben wird ins musikalische Gedächtnis der Menschheit eingehen und seinen festen Platz behaupten. Behaupte ich mal.